© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/09 10. Juli 2009

Bildungsdebatte
Humboldt als Krisenmanager
von Heino Bosselmann

Deutschland durchlebt eine Krise, nicht nur eine finanzielle und ökonomische, sondern spürbarer eine Sinn- und damit Bildungskrise. Während sich die offizielle Politik mit zunehmend verrenkten Initiativen dadurch legitimiert, demokratisch zu sein, wendet sich eine wachsende kritische Minderheit von ihr ab. Hinzu kommt, daß es dem demokratischen System an mündiger Bürgerschaft und somit an einem qualifizierten und breiten öffentlichen Diskurs fehlt. Dieser erfordert ein Neuverständnis von Bildung, dem einstigen Ideal des sich emanzipierenden Bürgertums. Der wahrhaft gebildete, der „innerlich verbesserte und veredelte“ und solcherart intellektuell autonome Mensch ist als „Zweck an sich selbst“ überhaupt erst Voraussetzung von Demokratie, die nicht zuerst einer pauschalen, alles erlaubenden Freiheit bedarf, sondern notwendig des urteilskräftigen Menschen. Ihm sollte hinreichend Freiheit zukommen, damit er vernünftig wirken kann.

Traditionelle oder gar klassische Bildungsideale setzten sich das Ziel, den Menschen zu bilden. Damit war zumindest im engeren Sinne weder das Training von Kompetenzen gemeint noch der Gewinn einer sich pragmatisch verstehenden Tauglichkeit. Eher sollte durch Erziehung und Ausbildung eine Persönlichkeit entwickelt werden, die aus dem Herkommen, aus dem Erbe heraus zur Reife wuchs. Diese Reife bestand in dem Vermögen, aus dem erworbenen Wissen eine Haltung zu entwickeln, der Orientierung und Positionierung für das verantwortungsvolle Leben in und mit der Gemeinschaft möglich ist.

Als das Königreich Preußen zu Beginn des 19. Jahrhunderts politisch und militärisch gescheitert war und in auswegloser Situation schien, plante der Freiherr vom und zum Stein (1757–1831) seine Reformen als Möglichkeiten der Kompensation und Gegenwehr. Die Bildungsreform sollte das Werk krönen: „Am meisten aber ist von der Erziehung und dem Unterricht der Jugend zu erwarten. Wird durch eine auf die innere Natur des Menschen gegründete Methode jede Geisteskraft von innen heraus entwickelt und jedes edle Lebensprinzip angereizt und genährt, alle einseitige Bildung vermieden, und werden die bisher oft mit sichtlicher Gleichgültigkeit vernachlässigten Triebe, auf denen die Kraft und die Würde des Menschen beruht (…) sorgfältig gepflegt: so können wir hoffen, ein physisch und moralisch kräftiges Geschlecht aufwachsen und eine bessere Zukunft sich eröffnen zu sehen.“

Was heute nicht nur als konservativ, sondern geradezu als reaktionär gelten würde, bildete den Ansatz der Humboldtschen Bildungsreform: Sie wandte sich gegen das kurzfristige Nützlichkeitsdenken und wagte Erneuerung aus dem Ideal heraus.

Wilhelm von Humboldt, den Stein 1808 zum Bildungsminister ernannte, entwarf ein grandioses Konzept, mit dem er in Zeiten von Not und Bedrängnis nicht nur Hoffnung vermittelte, sondern eine innere Befreiung aus alten Lebenslügen ermöglichte. Die Schule sollte aus der bereits damals Schüler und Lehrkräfte verschleißenden Paukerei herausfinden und gerade nicht pragmatischen Kriterien folgen, sondern sich der „formalen und proportionierlichsten Bildung aller Kräfte“ stellen, wobei „formal“ im Gegensatz zum heutigen Sprachgebrauch noch für die „Form“ im Sinne des Ideals stand.

Sie sollte also nicht abrichten, trainieren und coachen, sondern ein Refugium bieten, in das die Erfordernisse des nur Nützlichen nicht einzugreifen hatten. Diesen Utilitarismus hatte die Aufklärung jedoch präferiert – damals wie heute Grundlage „praxisorientierter Ausbildung“ und damit eigentliche Ursache der Bildungsmisere. Was heute nicht nur als konservativ, sondern geradezu als reaktionär gelten würde, bildete den Ansatz der Humboldtschen Bildungsreform: Sie wandte sich gegen das kurzfristige Nützlichkeitsdenken und wagte Erneuerung aus dem Ideal heraus – in der Hoffnung, so die geistigen und sittlichen Kräfte des gesamten Volkes wieder aufrichten und stärken zu können.

Der Staat, der jetzt am Boden war, hatte den umgekehrten Weg eingeschlagen: Der nüchterne Utilitarismus der Aufklärung hatte seinen merkantilistischen Erwartungen ebenso entsprochen wie seinem Bedürfnis nach Untertanen statt denkender Bürger.

Bildung im Humboldtschen Sinne vertrug sich nicht unbedingt mit Gehorsam. Indem neu von Ideen ausgegangen wurde und das Ziel des schönen Charakters und vollen Menschen angestrebt wurde, war nicht zuerst der Berufstätige oder Staatsbürger gemeint, sondern der ganze Mensch.

Damit waren Grundfragen der menschlichen Existenz sowie Sinnfragen berührt, die früher – und heute – als unerwünscht oder mindestens unnütz galten. Verstand und Gemüt sollten an der Ideenwelt untergegangener Völker entwickelt werden; der Geist sollte so auf eine innere Entdeckungsreise gehen, Erfahrungen sammeln und Einsichten erringen, an denen seine Individualität wuchs und sich zur Persönlichkeit formte. Wichtiger als Resultate, nahm Humboldt an, sei es dem Menschen, die Kräfte seiner Natur zu erhöhen. Weniger als auf vorzeigbare Leistungen komme es auf die Ausbildung der „zugrunde liegenden Kräfte“ an, die er in der Einheit von Verstand, Gefühl, Einbildungskraft und Anschauung angelegt sah.

Ein solches Menschenbild widersprach damals wie heute den Routiniers der Paukschule, ebenso wie es den Widerstand moderner Pädagogik findet, nach deren Definition alle gleich sind:  Anstatt die besonders Begabten und Engagierten aufmerksam zu fördern, betreibt sie einen Riesenaufwand, um Unterschiede im Talent und Herkommen wegzureden und eine Nivellierung auf unterem Niveau zu ermöglichen. Die Intention, alle irgendwie durchzubringen, hilft vielen, läßt aber die Talentierten in der Mittelmäßigkeit schlechten Standards versanden.

Humboldt verstand die intellektuelle und wissenschaftliche Begabung als Gabe der Natur, die nur wenigen zukommt. Sie allein erfahren den Wert der Bildung als „innere Verbesserung und Veredlung“. Neben die „nur für Wenige taugliche (…) wissenschaftliche Ausbildung des Kopfes“ mußte also eine dem Praktischen zugewandte Ausbildung für die Mehrheit treten. Der Humboldtsche Leitspruch „Bildung für alle“ bezieht sich durchaus auf die Selektion „genievoller Individuen“ aus verschiedenen Schichten; eine buchstäbliche Inanspruchnahme des Wortes „alle“ lag ihm fern.

Im Gegensatz zur aufklärerischen oder modernen Ansicht sollte „alles nur irgend Mechanische“ aus dem Unterricht entfernt werden. Nur so konnte das Kind ein Bewußtsein davon haben, was es hört, sagt und tut und warum so und nicht etwa anders gehandelt wird. Ein voller, ganzer und freier Mensch konnte nicht Sklave eines bestimmten Berufs oder nur Anhänger einer bestimmten Konfession sein. Der höchste Anspruch und das wahre Glück lägen in der harmonischen Betätigung aller Kräfte einer zur individuellen Gestalt entwickelten Persönlichkeit. Gleichförmigkeit hingegen bedeutete für Humboldt Armut.

Die neue Bildungsidee mußte folgerichtig von der Philologie ausgehen, weil sie die geistige und sinnliche Natur des Menschen in der Sprache verbunden sah. Das bildende Organ des Gedankens konnte nur die Sprache als Geschwisterteil des Denkens sein. Sie entsteht in der Ideenwelt, äußert sich aber im sinnlichen, physischen Akt und spiegelt den Gedanken dem Adressaten wie dem Sprecher selbst. Nach Humboldts Auffassung sind Wörter Wesen mit eigenem Leben, die in der Vorstellung Assoziationsketten bilden, die sich in jedem Verstand zwar gleichen, aber doch unterschiedliche konkrete Anschauungen wachrufen. Wer die Bildung von Geist und Gemüt wünscht, dem muß sich der Sprachunterricht, und zwar zuerst der muttersprachliche, als idealer Gegenstand empfehlen.

Daß Humboldt das Studium des Griechischen als Grundlage höherer Bildung ansah, entspricht der Auffassung der Klassik, die das Griechentum als mustergültig empfand und darin die Idee der Humanität – im Gegenbild zur krisen- und kriegsbestimmten Gegenwart – verwirklicht sah. Bildung bedarf des Studiums am Muster. Damit war keine weltfremde Gelehrsamkeit angestrebt, eher schien ein Medium gefunden, mit dem an das goldene Zeitalter der Menschheit anzuknüpfen war. Die Vorstellung antiker Vollkommenheit galt als ein Richtmaß, an dem sich der vereinzelte, fragmentarisierte Mensch aufrichten konnte. Überdies schien so ein Ausgleich zwischen den Extremen des süßlichen Barock und der rationalistischen Aufklärung möglich, gewissermaßen also von Sinnlichkeit und Vernunft.

Jede menschliche Erkenntnis ist begrenzt: Weder die analytische Untersuchung noch die unmittelbare Anschauung genügen, die Seele der Dinge, das Sein als solches zu erfassen. Es bleibt für den Menschen letztendlich unbegreiflich. Diese Beschränktheit aller Erkenntnis war Humboldt als Sprachwissenschaftler bewußt, so wie das Bildungsideal der deutschen Klassik auf bewußter Selbstbescheidung beruhte, die dem kriegsbedingten Desaster Preußens jedoch ein „Trotzdem“ entgegenhalten und das Wagnis unternehmen konnte, einen Neubeginn in der Idee und im Inneren zu begründen, wo er angesichts der äußeren Umstände doch unmöglich schien.

Das Wort Bildung ist ein genuin deutscher Begriff. Das Englische gibt mit education einen anderen Sachverhalt wieder. Educatio meint lateinisch das Herausführen aus der Unwissenheit, wird später aber pragmatisch nur noch als das Einüben von Fähigkeiten verstanden, die verengten Berufs- und Lebensaufgaben dienen.

Dagegen soll der zu Bildende gerade nicht an ein Ziel geführt oder nur „praxistauglich“ werden, nein, seine guten Anlagen sollen sich frei entwickeln. Im Dialog mit dem Erbe und anderen Wissenden soll er „sein Ich mit der Welt verknüpfen“ und als intellektuell befähigtes Wesen in voller Einsicht seiner eigenen Grenzen einen angemessenen Platz in der Gesellschaft finden. In kritischer Selbstvergewisserung und innerer Selbstbereicherung hebt er so das Kulturniveau und veredelt nicht nur sich, sondern die gesamte Nation.

Im Zuge des sogenannten Bologna-Prozesses wird mit den verkürzten, „effizienten“ Studiengängen das angelsächsische Modell der education übernommen und mit der universitas litterum, also der umfassenden Bildung um ihrer selbst willen, gebrochen, indem verschult nützliche Fähigkeiten eingeübt werden. Anstelle der Bildung und Erziehung erfolgt also Training, allenfalls noch Ausbildung. Eine Aufgabenteilung zwischen Staat und Wirtschaft, nach der dem Staat die Allgemein-, der Wirtschaft die Berufsbildung zukam, ist dahin. Das Tempo wird nach marktwirtschaftlichen Kriterien forciert, der Weg zum Ziel ist vorgezeichnet, Exkurse sind ausgeschlossen, Muße als Grundbedingung des Geistigen wird betriebswirtschaftlich belächelt und ausgetrieben.

Die deutsche Universität, die früher weltweite Vorbildwirkung – gerade gegenüber Amerika – genoß, wird in die Lehranstalt rückverwandelt, die sie vor den Humboldtschen Reformen war. Mit den klassische Graduierungen vortäuschenden Titeln Bachelor und Master, abgeleitet von Baccalaureus und Magister, schafft man Markenbezeichnungen, die ein altehrwürdiges Universitätssiegel zu suggerieren versuchen, gerade weil sie es nicht mehr rechtfertigen können. Die Humboldtsche Freiheit von Lehre und Forschung ist EU-obrigkeitsstaatlich durch den euphemistisch verkleideten Bologna-Prozeß zerstört; die Universitäten degenerieren zu Service-Einrichtungen, Studenten werden Kunden.

Mit den klassische Graduierungen vortäuschenden Titeln Bachelor und Master, abgeleitet von Baccalaureus und Magister, schafft man Bezeichnungen, die ein altehrwürdiges Universitätssiegel suggerieren, gerade weil sie es nicht mehr rechtfertigen können.

Wissensvermittlung verkürzt sich aufs Geschäft. Indem die Vermarktwirtschaftlichung öffentlicher Güter vom durchregierenden Lobbyismus der Neoliberalen als per se modern verstanden wird, gilt dieser Prozeß der Einnivellierung und Verarmung als innovativer Gewinn. Dabei hat er gar nichts mit dem universitären Anspruch gemein, mit dem die älteste Universität Europas, nämlich Bologna, als Alma Mater gegründet wurde. Die Ökonomie diktiert Lehrinhalte und Methoden. „Spitzenforschung“ ist nur mehr naturwissenschaftlich und technisch möglich, wird aber zunehmend von außeruniversitären Instituten und Wissenschaftszentren besorgt. Wo sie existieren will, muß sie sich lohnen oder mindestens Drittmittel einwerben.

Während dieser Kulturverlust in der Phase der Marktradikalität unter dem Einfluß der unseligen EU-Reformer durchgedrückt werden konnte, sind mittlerweile seine fatalen Folgen sichtbar. In der Weise, wie das Wirtschafts- und Finanzgebaren der hypertrophen Großindustrie und der mit ihr verwobenen Banken an den eigenen Prinzipien und Erwartungen scheiterte, offenbart ebenso der Bildungsbereich ein Desaster nach dem anderen: Der Verlust an Allgemeinbildung ist erschütternd, weil über Jahre schon die Forderung danach als antiquiert bis reaktionär galt.

Konnte das rein wirtschaftlich noch durchgehen, weil jeder durch Kurse und sektorale Qualifizierung irgendwie „fit“ zu machen war, erweist sich das Fehlen einer politischen Bildung gerade für die Demokratie als gefährlich, wenn nicht gar tendenziell tödlich. Indem nach Auskunft von Hochschullehrern kaum mehr ein Durchschnittsabiturient in der Lage ist, eine anspruchsvolle Tageszeitung zu verstehen, kann auch nicht mehr mit kritischen Diskutanten in der demokratischen Entscheidungsbildung gerechnet werden. Gerade in der Krise läge die Möglichkeit einer Neuorientierung. Humboldtsche Reformen werden nicht neu aufzulegen sein, aber an ihrem Geist kann sich Inspiration entzünden.

 

Heino Bosselmann ist Landlehrer an einem Internatsgymnasium. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über „Präsentation statt Qualität“ (JF 11/08).

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