© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/09 17. Juli 2009

Ohne Mythen geht es nicht
Ob Hermannsschlacht, Befreiungskriege oder der 20. Juli 1944: Ein Volk muß an sich glauben
Martin Lichtmesz

Wer nicht an Mythen glaubt, glaubt an Lügen.“ Wenn diese Sentenz Nicolás Gómez Dávilas zutrifft, dann steht es schlecht um Deutschland. Der Politologe Herfried Münkler weist in seinem jüngsten Buch „Die Deutschen und ihre Mythen“ auf die sinn-, kontinuitäts- und identitätsstiftende Kraft nationaler Mythen hin. Diese fielen nach 1945 einem antinationalen Kehraus zum Opfer, der bis heute anhält.

Münkler beschreibt die Bonner und Berliner Republik als „mythenfreie Zone“, in der allenfalls das „Wirtschaftswunder“ eine Rolle als positive „Erzählung“ gespielt hätte. In der DDR wurde das Vakuum durch den „Antifaschismus“ aufgefüllt, dessen bundesdeutsche Variante heute keine Götter neben sich zuläßt. Ansonsten darf sich heutzutage das Pathos der positiven Identifikation allenfalls am Fußballpatriotismus oder im Abfeiern des Grundgesetzes entfalten. Aus diesem Grund wird auch sorgsam darauf geachtet, daß das Erbe des deutschen Widerstands weniger patriotisch als „antifaschistisch“ rezipiert wird.

Mythen allerdings haben ein zähes Leben. Die Schlacht im Teutoburger Wald fasziniert heute immer noch mehr als alle Wirtschaftswunder und Verfassungsgeburtsstunden der Welt. Auch hier wird emsig entzaubert und Wasser in den Wein gegossen. Aus der „Hermannsschlacht“ wurde die „Varusschlacht“, und „Hermann“ zum „Arminius“ rückgetauft. Schon Gerhard Schröder äußerte, daß 9 n. Chr. das „ruhmreiche römische Heer von einer Horde ungebildeter Mitteleuropäer besiegt“ worden sei, und auch die zur Eröffnung der „Varusschlacht“-Ausstellung in Detmold geladene Angela Merkel betonte, daß der Hermannsmythos zeige, „wie Geschichte instrumentalisiert und vom eigentlichen Ereignis entfremdet“ werde. Ein Gedanke, der ihr – im Sinne von Martin Walsers Paulskirchenkritik von 1998 – anläßlich ihrer Rolle als Buchenwalder Büßerfigur zwischen Barack Obama und Elie Wiesel wohl nicht gekommen ist.

Für den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU) sind „die Mythen um Arminius“ gar „historisch gesehen schierer Unsinn. Arminius war nicht Hermann. Hermann war kein Germane. Und ein Germane war kein Deutscher. Auf dem Schlachtfeld vor 2.000 Jahren entstand nicht Deutschland“. Richard Herzinger schließlich identifizierte in der Welt Hermann als Protagonisten des ewigen „Antiwestlertums“, jenes „zivilisationskritischen Affekts, der nationale Selbstbestimmung mit der Abschottung von den Errungenschaften der westlichen Moderne verwechselte.“

Gerade diese Zitate sind schlagende Beispiele einer in die Vergangenheit projizierten gegenwärtigen Befindlichkeit. Indem der Selbstbehauptungswille von damals „kritisch“ demontiert wird, soll auch die Selbstpreisgabe von heute ihr gutes Gewissen bekommen. An dieser Praxis zeigt sich aber auch, wie sehr die „mythenfreie Zone“ zur schöpferischen Wüste geworden ist. Natürlich werden Mythen „gemacht“, Kontinuitäten „konstruiert“. Jede vitale Nation lebt davon, daß sie aktiv Bande und Wahlverwandtschaften in die Vergangenheit knüpft, sich gerade in Zeiten der Bedrängnis an den großen Taten und Menschen ein Beispiel nimmt. Es waren nicht eben die Schlechtesten, die sich etwa Hermann zum Ahnherren erkoren, unter ihnen Dichter ebenso wie Täter – von Ulrich von Hutten und Martin Luther bis zu Klopstock und Kleist.

Von diesem Geist deutscher Kontinuität, vermittelt durch die mythenbildende Dichtung Stefan Georges, war auch Claus Schenk Graf von Stauffenberg beseelt. Wenn die nationalen Mythen heute wegen ihrer Rolle im Dritten Reich unter Generalverdacht stehen, dann ist Stauffenberg, der mit der Losung „Es lebe das heilige Deutschland!“ auf den Lippen starb, Zeuge für die Größe, die sie hervorzubringen vermögen.

Obwohl seine Gestalt durch ihre Tat selbst mythisches Gepräge erlangt hat, hat es die Bundesrepublik bisher nicht gewagt, mit ihr das nationale Vakuum aufzufüllen. Stauffenberg wird als Attentäter Hitlers respektiert, zugleich aber wird immer wieder vor seiner „Ikonisierung“ gewarnt. Seine tiefsten Antriebe werden oft verschämt übergangen oder als lästiges Beiwerk verschmäht. In der Tat müssen den herrschenden Eliten die berühmten Sätze des Eides der Erhebung vom 20. Juli zutiefst peinlich sein: „Wir glauben an die Zukunft der Deutschen!“ heißt es da, und: „Wir bekennen uns im Geist und in der Tat zu den großen Überlieferungen unseres Volkes, das durch die Verschmelzung hellenischer und christlicher Ursprünge in germanischem Wesen das abendländische Menschentum schuf.“

Eine selbstvergessene Nation wie Deutschland kann indessen kaum ermessen, für welche Werte Stauffenberg zu sterben bereit war. Historische Besonderheiten machen aus ihm eine weit schwierigere Figur als Hermann oder Andreas Hofer, deren Feind bloß im Außen stand. Die deutsche Nachkriegsgeschichte ist kaum als Fremdherrschaft im kollektiven Gedächtnis geblieben. Wohlstand, Stabilisierung und Umerziehung haben die Unterwerfung erträglich gemacht, den Riß durch die deutsche Seele aber nicht heilen können.

Die Gestalt Stauffenbergs könnte vielleicht als einzige jenen positiven Mythos bilden, der die Kraft hätte, die vom Trauma des Nationalsozialismus zerrissenen Deutschen mit sich selbst zu versöhnen. Solange der Wohlstand jedoch noch einigermaßen intakt ist und die innere Apathie übertüncht, wird arrogant auf die Idee des Heldentums herabgeblickt, wird das Defizit der „mythenfreien Zone“ kaum bemerkt.

In einem Interview mit der taz warnte Herfried Münkler: „Für tiefgreifende Umbauten der Gesellschaft und Krisenbewältigungen sind sinngebende große Erzählungen nötig.“ In der Stunde der Not sei ein kraftspendendes „Pathosreservoir“ unerläßlich. Aus einem solchen hat der deutsche Widerstand geschöpft, und sein Opfer fruchtbar zu machen, um neue Reservoire anzulegen, liegt heute ganz in unserer Hand.  

Foto: Szene aus den Befreiungskriegen „Theodor Körner liest seine Kriegslieder vor“; Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald; Claus Schenk Graf von Stauffenberg

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