© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/09 17. Juli 2009

Gutmenschen
Ideologie der Unschöpferischen
von Thorsten Hinz

Der Begriff „Gutmensch“ steckt voller vergifteter Ironie. Kein anderes verbales Mittel unterminiert die politische, intellektuelle und moralische Zuständigkeit bundesdeutscher Diskurskoryphäen so effektiv wie dieses. Das veranlaßte im März 2006 das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) und den Deutschen Journalistenverband zu dem Versuch, das Wort als ein Erbteil aus dem „Nazideutsch“ in Acht und Bann zu tun. Das Vorhaben scheiterte, weil die philologische Begründung unhaltbar war. Die Wochenzeitung Die Zeit stellte ihre Kritik daraufhin in ein erweitertes politisches und kulturgeschichtliches Bezugsfeld: Daß der Begriff „Gutmensch“ sich in der Alltagskultur niedergelassen habe, markiere den „Triumph antihumanistischen Denkens“. Die „Häme über den guten Menschen“ habe bei Nietzsche begonnen, inzwischen sei das Wort zum „Kampfbegriff“ der „Neuen Rechten“ geworden und „Gottfried Benns ‘Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch’“ zum neuen Ideal aufgestiegen.

Eine Gegenposition nimmt der Schriftsteller Richard Wagner ein, der weder alt- noch neurechts ist. In dem Roman „Das reiche Mädchen“ (2007) erzählt er von der Beziehung zwischen einer erfolgreichen Wissenschaftlerin, Sproß einer wohlhabenden Familie, die ihr Vermögen im Dritten Reich durch die Beschäftigung von Zwangsarbeitern vermehrt hat, und einem Balkan-Flüchtling. Der generationstypische Versuch der jungen Frau, die Schuld ihrer Familie durch ihre Verbindung zu tilgen, endet in einer Katastrophe – sie wird von dem Macho ermordet.

In einem Rundfunkinterview sprach Wagner unverblümt vom „Gutmenschen“, der auch dort alles „verstehen“ wolle, wo er endlich einmal Flagge zeigen müsse. Die „Ideologie des Gutseins“ sei eine Erbschaft von 1968, unter der die nachfolgende Generation stöhne. Weil man gegen „das Gute“ nicht rebelliere, könne sie „dieses Ideologische“ nicht abstoßen, sondern verinnerliche es. Über ihre Sensibilität gerate sie in Hilflosigkeit und schließlich in Frustration, „weil sie etwas Neues nicht schaffen kann und auf der anderen Seite noch in der Situation (ist), das leisten zu müssen, was die Vorkämpfer von ’68 als Meßlatte angesetzt haben“.

Wagners Erklärung reicht nicht tief genug, während Die Zeit die Sache falsch verstanden hat. So hat Nietzsche keine Häme über „gute Menschen“ ausgeschüttet, sondern er hat dargelegt, daß diejenigen, die sich als solche produzieren, gar nicht über die moralischen Qualitäten verfügen, die sie sich selber unterstellen. Mit „Gutmensch“ verbinden sich Vorstellungen von penetranter Moralisierung bei gleichzeitiger politischer Naivität, Heuchelei, Pharisäertum, Berechnung. Gesellschaftliche Probleme und Widersprüche führt der „Gutmensch“ auf keinen sachlichen Kern, auf Interessenkonflikte oder kulturelle Inkompatibilität zurück, vielmehr reduziert er sie auf moralisches Fehlverhalten – vorzugsweise des eigenen nationalen Kollektivs. Durch eine Verhaltenskorrektur können sie demnach aus der Welt geschafft werden.

Allerdings werden Menschen, die ihre Umwelt mit moralischen Belehrungen alter Schule (etwa über die Vorzüge vor- und außerehelicher Keuschheit) heimsuchen, nicht als „Gutmenschen“, sondern nur als Nervensägen wahrgenommen. Die Moralität des Gutmenschen ist also eine spezifische, und sie ist jüngeren Datums. Zu seiner vollen Größe erhebt er sich in der Sphäre der Öffentlichkeit, der Medien. Obwohl er vordergründig ohne politische Berechnung auftritt und die reine, interessenlose Moralität vertritt, zielen seine Interventionen auf politische Wirkung ab und fügen sich zu einem umfassenden Programm. Um den „Gutmenschen“ zu bestimmen, muß der historische Punkt bezeichnet werden, an dem seine Moralität in die Öffentlichkeit und die praktische Politik übergegriffen hat.

Für Nietzsche war der „gute Mensch“ jemand, dessen „Seele schielt“, dessen Geist „Schlupfwinkel, Schleichwege und Hinterthüren“ benutzt, der die Welt durch „das Giftauge des Ressentiments“ betrachtet – eines Ressentiments, das schöpferisch wird („Genealogie der Moral“). Diesen Menschentyp sah er mit dem Siegeszug von Demokratie, Fortschritt und Sozialismus nach vorn drängen. Seine Wortführer nannte er „Nivellirer“, „beredte und schreibfingigere Sklaven des demokratischen Geschmacks“, „allesamt Menschen ohne Einsamkeit, ohne eigene Einsamkeit“ – heute würde man sagen: geistige Eigenständigkeit –, die für das menschliche Leiden und Elend die bisherige Gesellschaft verantwortlich machten.

„Was sie mit allen Kräften erstreben möchten, ist das allgemeine grüne Weide-Glück der Heerde, mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens für Jedermann; ihre beiden am reichlichsten abgesungenen Lieder und Lehren heißen ‘Gleichheit der Rechte’ und ‘Mitgefühl für alles Leidende’ – und das Leiden selbst wird von ihnen als Etwas genommen, das man abschaffen muß.“ Für Nietzsche war das eine Moral im Niedergang, der europäischen Dekadenz, eine Ideologie der Kleinmütigen, Ängstlichen, Unschöpferischen, Schwachen, die trotzdem an die Herrschaft gelangen wollen, allerdings über „Schleichwege und Hinterthüren“, wie gesagt.

Er erläuterte das am Gebot der Feindesliebe, das der „Gutmensch“ aus der religiösen in die politische Sphäre zu überführen vorgibt. Die Feindesliebe als politisches Prinzip ist absurd, denn man kann keinen lieben, der einen unterwerfen, auslöschen, umbringen will, es sei denn, man hat einen Hang zu Masochismus und Selbstmord. Vernünftigerweise wird man seinen Feind respektieren, seine Herausforderung annehmen, und auf dieser Basis des Respekts kann Verständnis, ja Sympathie erwachsen. „Wieviel Ehrfurcht vor seinen Feinden hat schon ein vornehmer Mensch – und seine solche Ehrfurcht ist schon eine Brücke zur Liebe ...“

Ein Feind, an dem nichts zu verachten, aber viel zu ehren ist, bedeutet auch eine Auszeichnung für einen selber. Wer seinem Gegner diese Achtung versagt, zur Ehrfurcht außerstande ist, beweist die eigene charakterliche Minderwertigkeit. Der Anspruch, den anderen nicht als Feind anzuerkennen, sondern ihn zu lieben, ist ein Akt der Selbsterhöhung. Entweder läßt der Feind sich durch das eigene Vorbild zur „Liebe“ erziehen und unterwirft sich, oder es richtet sich auf ihn ein „ungesättigter Hass“ – eine Vernichtungswut, welche nur durch die Auslöschung des anderen befriedigt wird.

Durch den „Gutmenschen“ wird die Heuchelei zum politisch-ideologischen Machtmittel. Seine behauptete höhere Moral richtet er nicht als ethische Forderung an sich selbst, sondern gegen andere, um Herrschaft zu erlangen. Nur leben wir inzwischen in einer Zeit, in der das gutmenschliche Modell zur Abschaffung des Politischen und seiner Neuerfindung aus dem Geist der Moral selbstmörderisch wirkt gegenüber ethnischen oder religiösen Gruppen, die in ihrem Selbstbewußtsein von keinem Schuldgefühl angekränkelt sind, auf dessen Basis die moralische Erpressung sich vollzieht. Um ihnen gegenüber Herrschaftsansprüche geltend zu machen, bedürfte es eines Mindestmaßes an Mut, Größe, Tapferkeit – Eigenschaften, die vom postheroischen „Gutmenschentum“ systematisch dekonstruiert und destruiert worden sind.

Um vor sich selber und gegenüber anderen den Anschein höherer Moralität zu wahren, läßt er diese zur „Toleranz“ gerinnen – eine Alibiformel für eine sich ins Unendliche dehnende Langmut. De facto handelt es sich um eine Anbiederung an den potentiell Stärkeren, um die Unterwerfung in der Hoffnung auf milde Bedingungen inklusive der Chance, auch unter veränderten Bedingungen weiter an der Macht teilhaben zu dürfen.

Für diejenigen, die diese Verhunzung sowohl der Politik als auch der Moral nicht hinnehmen wollen, gelten die Nietzsche-Sätze: „(...) wer jene ‘Guten’ nur als Feinde kennen lernte, lernte auch nichts als böse Feinde kennen“, „nicht viel besser als losgelassene Raubtiere“, die sich für den selbstauferlegten Zwang, ihre Komplexe und ihren heimlichen Selbsthaß durch eine „scheussliche Abfolge“ von Niedertracht und Grausamkeit entschädigen, aus der sie als „frohlockende Ungeheuer“ und „mit einem Übermute und seelischem Gleichgewichte hervorgehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei“.

Es ist kein Zufall, daß das „Gutmenschentum“ im Nachkriegsdeutschland sogar staatsprägend wurde. Arnold Gehlen hat dieses Phänomen als „Hypermoral“ und seinen Zusammenhang mit der totalen Niederlage von 1945 präzise beschrieben. Die von der Situation überforderten Deutschen haben aus ihrer politischen Ohnmacht heraus instinktiv den Versuch unternommen, die Welt moralisch zu missionieren, um die politischen Realitäten zu überlisten und von der Außenwelt Schonung zu erlangen. Gelungen ist ihnen das nicht.

Inzwischen sind, das hat der Roman­autor Richard Wagner ganz richtig beobachtet, das „Schuldbewußtsein und die Selbstbezichtigung (...) gesamteuropäisch“ geworden. Wie er in seinem Roman andeutet, beschwören die „Gutmenschen“ ihre Selbstausrottung herauf. Eine Hoffnung für die anderen bedeutet das nicht, denn sie reißen die anderen mit in den Abgrund oder schubsen sie hinein, um anschließend selber weich zu fallen.

Bleibt der Versuch, ihnen das Handwerk zu legen, indem man sie identifiziert und definiert. Ein untrügliches Merkmal des „Gutmenschen“ ist seine Feigheit. Er redet zwar viel von Mut, und es drängt ihn, sein Gesicht zu zeigen, aber nie wird er etwas äußern, das ihn in der Öffentlichkeit in eine Minderheitsposition bringt. Er hat das Prinzip der Schweigespirale, die er vorantreibt, selber tief verinnerlicht. Auch dort, wo er im Namen der Moral gegen Gesetze verstößt und gegen Institutionen rebelliert, ist das Risiko, das er eingeht, nur ein scheinbares, denn stets handelt es sich um Festungen, die längst geschleift sind.

Zweitens verlangen die „Gutmenschen“ sich selber kein Opfer ab, sie fordern es von anderen. Ihre pharisäerhaft vorgeführte Güte soll ihnen Karriere, Lebensunterhalt, gesellschaftliches Ansehen verschaffen. Stets sind sie auf der Suche nach neuen Betreuungsobjekten – nicht, um ihr eigenes, selbsterarbeitetes Vermögen mit ihnen zu teilen, sondern um sich auf Staatskosten um sie kümmern zu können und dabei noch einen fetten moralischen Mehrwert einzustreichen.

Die von der Zeit erwähnte „Neue Rechte“ betrachtet deswegen das Schwein keineswegs als der Schöpfung Krone. Sie lehnt den „Gutmenschen“ ab, weil er in ihren Augen eine geistig-moralische Deformation darstellt, die weder edel noch hilfreich noch gut ist, sondern der Verschweinung des Menschlichen gleichkommt.

 

Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte Germanistik in Leipzig. Er war 1997/98 Kulturredakteur der JUNGEN FREIHEIT und arbeitet heute als freier Autor und Journalist in Berlin. 2004 wurde er mit dem Gerhard-Löwenthal-Preis für Journalisten ausgezeichnet. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das „Ende des Weißen Mannes“ (JF 23/08).

Foto: Ringelpiez mit Anfassen: „Was sie mit allen Kräften erstreben möchten, ist das allgemeine grüne Weide-Glück der Heerde, mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens für Jedermann“ (Friedrich Nietzsche)