© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/09 07. August 2009

Deutschland heute
Die Situation, in der wir stehen
Erik Lehnert

Es ist bald 20 Jahre her, daß sich die DDR aus der Geschichte verabschiedete. Nicht mit einem Knall, sondern mit Auflösungserscheinungen, die der allgemeinen Ermüdung ihrer Bewohner geschuldet waren. Die Mehrheit der damaligen DDR-Bürger hatte keine Lust mehr, ein System zu stützen, das seine irrwitzige Versprechung, die „Entfremdung des Menschen aufzuheben“, nicht halten konnte. Der Westen hatte dagegen sein Versprechen individuellen Glücks gehalten. Jedenfalls erweckte er aus DDR-Sicht diesen Eindruck, so daß weniger die Aussicht, an freien, gleichen und geheimen Wahlen teilzunehmen, die Leute begeisterte, als vielmehr die Möglichkeit, am westdeutschen Konsum und Wohlstand zu partizipieren. Nachdem das erreicht war, kamen die üblichen Gesetzmäßigkeiten zum Tragen: Das Vergangene ist immer schöner als das Gegenwärtige, und die rauhe Welt des Kapitalismus läßt wenig Platz für die Nischengemütlichkeit der ehemaligen DDR.

Und so ist es nicht verwunderlich, daß wir eine ständig wachsende Ostalgiewelle, die jetzt auch in der politischen Diskussion angekommen ist, beobachten können. Die mittlerweile geführte Debatte, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, und die darin vorgetragenen Meinungen lassen sich auf zwei Erfahrungen zurückführen. Erstens: Das, was faktisch feststeht, muß der einzelne noch lange nicht so empfunden haben. Die Mehrheit dürfte die Frage, ob sie in einem Rechtsstaat lebt, so lange nicht interessieren, wie sie mit diesem Staat nicht in Konflikt gerät. Zweitens: Es hat offenbar nicht allzuviel mit der persönlichen Lebenssituation zu tun, wie man die Vergangenheit bewertet. Die Ausnahme bilden hier die Extreme Täter und Opfer, deren Vorhandensein von der Mehrheit ausgeblendet wird. Aber selbst heute beruflich Erfolgreiche, denen materiell keine Wünsche unerfüllt bleiben, verklären die „gute alte DDR“. Wie alt man beim Mauerfall war, ist dabei zweitrangig. Das geht bis zu der Aussage: Ob „Wende oder nicht Wende“, das sei egal gewesen, man hätte auch in der DDR sein Glück gemacht.

Es ist seit 1989 nicht mehr gelungen, so etwas wie eine selbstverständliche Akzeptanz der hiesigen Verhältnisse herzustellen – was der BRD nach 1949 recht problemlos glückte, obwohl die Voraussetzungen ungleich schwerer waren. Die Situation, in der wir heute stehen, lädt offenbar nicht dazu ein, zu sagen: Laßt uns anpacken und weitermachen. Einfach, weil die Situation aussichtslos erscheint. Doch wenn etwas aussichtslos ist, zieht man sich eher zurück. Nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit. Die ehemaligen DDR-Bürger haben gleichsam das Privileg, in mythischen Zeiten schwelgen zu können, die noch nicht lange vergangen sind. Doch was ist mit dem jungen Menschen, der sein Land mit wachem Blick betrachtet und hier seinen Platz finden möchte? Was findet er vor?

Jeder Mensch braucht etwas, an dem er sich aufrichten kann. Wenn es darum geht, ihn als wertvolles Mitglied der Gemeinschaft zu gewinnen, muß ihm die Nation etwas bieten, das ihn beflügelt. Das hat diese Bundesrepublik nicht zu bieten – im Gegenteil. Das erste, was ihm da begegnet, ist die eigene Geschichte, die im wesentlichen aus zwölf Jahren zu bestehen scheint. Wie eine unausgesprochene Sühneleistung für die deutsche Einheit hat sich das in unserem Land breitgemacht, was man als „Schuldstolz“ bezeichnet.

Das, was im ersten Moment wie eine Paradoxie klingt, ist eine traurige Angelegenheit. Der linksliberale amerikanische Philosoph Richard Rorty kann seinen Lesern zurufen, daß eine Gefühlsbindung an das eigene Land notwendig und nur möglich ist, wenn der „Stolz die Scham überwiegt“. Dergleichen ist im gegenwärtigen Deutschland unmöglich, weil es nichts Positives mehr gibt, auf das man stolz sein darf. Im Gegenteil: Der Stolz bezieht sich hierzulande auf etwas, für das man sich normalerweise still und bescheiden schämt. Die „Manifestation der Schande“ soll einzigartig sein und über alle Zeiten Bestand haben. Der Vorwurf braucht nicht mehr von außen an uns herangetragen zu werden: Kein Tag, an dem wir nicht selbst die Schuld für uns reklamiert hätten.

Für diese Situation gibt es kaum Vorbilder, es sei denn, man verweist auf die Geschichte des jüdischen Volkes, wie das Theodor Lessing in den zwanziger Jahren getan hat. Doch dieses hatte neben dem „jüdischen Selbsthaß“ noch die Idee, das auserwählte Volk zu sein. In Deutschland gibt es keine „konkret-individuelle Idee der eigenen Nation“ (Max Scheler) mehr, nur einen abstrakten Verfassungspatriotismus, der mit Volksfesten mühsam belebt werden soll.

Niemand macht die Verfassung so zu seiner Sache, daß er bereit wäre, dafür sein Leben hinzugeben. Daran sind schon die Jakobiner gescheitert. Aber ein Staat muß im Ausnahmefall das Leben fordern dürfen. Und die innere Bereitschaft dazu setzt eine grundsätzliche Identifikation mit dem Gemeinwesen voraus. Daß diese nicht mehr gegeben ist, beschreibt der Begriff „Vorbürgerkrieg“. Um hier nicht des Alarmismus geziehen zu werden: In Deutschland herrscht nach wie vor eine verhältnismäßige Ruhe und Ordnung, wenn wir es beispielsweise und gerade dieser Tage mit Frankreich vergleichen. Doch Frankreich ist in dieser Hinsicht auf einem Weg schon weiter vorangeschritten, an dessen Anfang wir uns befinden.

Mit dem Vorbürgerkrieg oder auch „molekularen Bürgerkrieg“, wie Hans Magnus Enzensberger ihn bezeichnete, ist zunächst nur ein Auseinanderklaffen der Wertvorstellungen innerhalb einer Gesellschaft gemeint, bis hin zum völligen Nihilismus einzelner Gruppen. Thomas Hobbes stand im 17. Jahrhundert einer ähnlichen Situation gegenüber und kreierte seinen „Sterblichen Gott“, den Leviathan, als Antwort auf den Ernstfall seiner Zeit, der „Auflösung einer verbindlichen Normativität im konfessionellen Bürgerkrieg“ (Bernard Willms). Die Ursachen der Gewalttätigkeiten sah er im Streit um Worte begründet. Das Resultat dieses überspannten Diskurses war, daß niemand mehr genau wußte, was die „Pflichten eines Untertans“ waren.

In dieser Unsicherheit entstehen auch heute wieder Freiräume für eigene und eben auch gemeinschaftsfeindliche Interpretationen, die diese Lücke dann ausfüllen. Neben der zu beobachtenden Verrohung sind es Phänomene, die man als Parallelgesellschaft (Botho Strauß sprach von „Vorbereitungsgesellschaft“) bezeichnet – sie stellen unserem Staat, dem wir noch ideell und materiell verbunden sind, ein Leben in unmittelbarer Gemeinschaft, dem Clan oder der Familie, gegenüber.

Der hinter dem Vorbürgerkrieg stehende Sinnverlust, den offenbar immer mehr Menschen spüren, ist bislang gut durch das individuelle Glücksversprechen des Konsums überdeckt und absorbiert worden. Aber auch dieser „Konsumismus“ ist Ausdruck des Vorbürgerkrieges, weil diejenigen, die ihn kritisieren, in der Regel von ihm profitieren, normalerweise aber ihm zumindest unterworfen sind. Verzicht auf Konsum würde eben auch heißen, auf die millionenfache Verbreitung der eigenen Meinung zu verzichten. Und: Wer beispielsweise die Milchpreise kritisiert, sollte keine Milch trinken. Da ein Verbot des Konsums unweigerlich zu nordkoreanischen Verhältnissen führt, bleibt nur das Korrektiv des eigenen Beispiels.

Die bedenklichste Folge des Konsumismus ist das Verhaftetsein in der Gegenwart. Kleinkindhaft wird nur das als wirklich anerkannt, was man in dem Moment in Händen hält. An ein Morgen oder den Fortbestand des Gemeinwesens wird kein Gedanke mehr verschwendet. Das hat unmittelbare Folgen für den Zusammenhalt der Nation. Das Bewußtsein, nicht allein auf der Welt zu sein, schwindet und macht dem massenkompatiblen Egoismus Platz. Mit der fehlenden Empathie für den Nächsten ist wieder ein Schritt auf der Eskalationsskala des Vorbürgerkriegs gemacht.

Die gegenwärtige Krise ist nicht zuletzt Folge einer Haltung, einer Einstellung, die auf einer endlichen Grundlage unendliche Gewinne erzielen will und sich dazu virtueller Werte bedienen muß. Die Virtualisierung großer Teile der Wirtschaft überfordert den Menschen und führt zur extremen Belohnung der wenigen global player. Auch wenn sich linker Widerstand gegen diese Art der Wirtschaft artikuliert, indem vereinzelt der Nationalstaat als Schutzraum des verantwortungsvollen Wirtschaftens wiederentdeckt wird (durch Jürgen Elsässer vor allem), bleibt doch bestehen, daß sich diese Art der Virtualisierung aus der linken Lust an der Abstraktion ableiten läßt. Das Konkrete wurde als das noch nicht Verallgemeinerte, als das, was sich dem Gleichheitsgrundsatz bzw. der Forderung danach entzog, diffamiert. Als Folge billigte man dem Konkreten kaum noch eine Relevanz für das tägliche Handeln zu. Wer sich mit dem Konkreten abgab, war wirtschaftlich und soziologisch ein Narr.

Mit der Virtualisierung der Wirtschaft geht die der ökologischen Frage einher. Nachdem sich die ziemlich konkreten Aussagen des „Club of Rome“ von 1972 über die Grenzen des Wachstums nicht bewahrheitet haben, hat sich das Problembewußtsein völlig verändert. Das bedrückende Gefühl, jeder einzelne sei für den Zustand des Planeten zumindest mitverantwortlich, gehört der Vergangenheit an. Statt dessen haben sich der Staat und die internationale Gemeinschaft des Problems angenommen, es auf CO2 und Feinstaub reduziert und den Bürger zwar zur Kasse gebeten, ihn in Wirklichkeit aber unverantwortlich entlastet. Die konkrete Verantwortung ist weggefallen und hat einer imaginären Unendlichkeit Platz gemacht, die den Menschen neu überfordert.

Arnold Gehlen hat diese Virtualisierung bereits mit dem Begriff des „Humanitarismus“ beschrieben, der die Quellen der Moral verwechselt, wenn er die Liebe zur Menschheit als Maßstab des Handelns nimmt. Dieser Wirklichkeitsverlust bleibt für die Politik nicht folgenlos. Eine unmittelbare Folge ist, daß auch das wiedervereinigte Deutschland weltpolitisch keine Rolle spielen will, da Politik bedeutet, „nach innen eine Gemeinschaft zur dauernden Ordnung zu organisieren und nach außen die so organisierte Gesellschaft zu behaupten und zu erweitern“ (Ernst Troeltsch). In Deutschland bestimmt der „Gutmensch“ mit seinem Moralismus die Politik. Er hat sich aus dem Schuldzusammenhang politischen Handelns verabschiedet, indem er gar nicht mehr handelt. Und er macht sich Illusionen über die Natur des Menschen, wenn er davon ausgeht, daß die anderen ebenso veranlagt seien.

Erstaunlich ist, daß die gleichen Politiker es durchaus schaffen, sich illusionslos in der eigenen Partei durchzusetzen. Allerdings sind die hier benötigten Eigenschaften andere. Der Ausleseprozeß in der eigenen Partei ist so beschaffen, daß Profil, konsequente Entscheidungen und Überzeugungen eher zu dem gehören, was einen am Aufstieg hindert: Vermeide Verantwortung, wo es geht, es könnte sein, daß dich jemand beim Wort nimmt. Die Parteienoligarchie führt zu einer Negativauslese, die die Besten abschreckt. Für Max Weber war Politik noch das Bohren von dicken Brettern, was eine stabile, nüchterne Konstitution erfordere. Doch wir reden heute nicht mehr von einem „Beruf zur Politik“, sondern von einem kurzfristigen Geschäft, in dem die Wiederwahl die größte Aufmerksamkeit erfordert.

Formal und real sind die, die herrschen, allein weil sie herrschen, Elite. Das Merkmal der Elite, daß sie diesen Platz zu verteidigen trachten, erfüllen sie ebenfalls. Und doch stimmt irgend etwas an dieser Elite nicht. Sie erfüllen weder das klassische Kriterium der Weisheit noch das der Leistungsbereitschaft für das Ganze. Ihr Elitesein müßte sich daran messen lassen, inwieweit sie bereit sind, von sich und den eigenen Interessen abzusehen, um so dem Ganzen zu dienen. Doch solch eine Einstellung belohnt das System nicht.

Und in diesem Sinne ist die ganze Erziehungsarbeit, die ja zumindest im Sinne des Fortbestands unserer Nation die Gebrechen unserer Zeit vermeiden wollen müßte, ausgerichtet. Einerseits ist die Erziehung das entscheidende Feld, auf dem die Zukunft bereitet wird, andererseits ist sie immer auch das getreueste Abbild ihrer Zeit. Die dringendste politische Aufgabe ist die Erziehung. Daran hat sich seit Platon nichts geändert, wenn „Politik die Kunde von der Menschenführung und der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen“ (Hans-Joachim Schoeps) ist. Die Erwachsenenwelt lebt den Kindern Moralismus und Egoismus vor, die im Zusammenspiel mit dem Individualismus der Masse zu einer Konformität führen, die nur einen Inhalt hat: nichts gelten zu lassen, keine Ernsthaftigkeit zu ertragen, sich nicht ergreifen zu lassen und den Nächsten vor lauter Menschheit nicht mehr erkennen zu können. Daß es noch einmal ernst werden könnte, vermag sich kaum noch jemand vorzustellen.

Das ist die Situation, die ein junger Mensch vorfindet, wenn er den Bestand mustert und hinter die Kulissen schaut; ein Prozeß, den jede Generation von neuem wagen muß. Das Schicksal einer Nation entscheidet sich in denen, die es annehmen, es tragen wollen. Die erste Voraussetzung dafür ist das genaue, rücksichtslose Erfassen der Situation. Wer sich etwas vormacht, endet wie die DDR, nur könnte es dabei passieren, daß dann nicht einmal mehr das Glück bleibt, in den Reservaten der eigenen Vergangenheit zu überleben.

 

Dr. Erik Lehnert, Jahrgang 1975, studierte Philosophie, Geschichte sowie Ur- und Frühgeschichte. 2006 promoviert über Karl Jaspers und die Philosophische Anthropologie. Anschließend Lektor bei der Edition Antaios und Redakteur der „Sezession“. Seit 2008 ist er Geschäftsführer des Instituts für Staatspolitik (IfS).

Foto: Einkaufszentrum: Die bedenklichste Folge des Konsumismus ist das Verhaftetsein in der Gegenwart. An ein Morgen oder den Fortbestand des Gemeinwesens wird kein Gedanke mehr verschwendet. Das hat unmittelbare Folgen für den Zusammenhalt der Nation.

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