© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/09 21. August 2009

Pankraz,
die Wahl und das Gähnen von Illinois

In Joliet im US-Staat Illinois ist kürzlich ein Zuhörer bei einem Kriminalprozeß im Schnellverfahren zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil er während der Verhandlung „laut und provozierend“ gegähnt habe. Der Delinquent führte zu seiner Verteidigung an, daß er müde gewesen sei. Der Richter verlangte, daß er sich für sein Gähnen entschuldige. Das verweigerte der Delinquent, und so saß er zumindest – bis zur Aufhebung der Strafe – drei Wochen im Knast.

Würde man solche Maßstäbe auf die gegenwärtigen politischen Zustände in Deutschland anwenden, müßten Millionen und Abermillionen von Politikbeobachtern und schlichten Fernsehzuschauern sofort hinter Gitter gebracht werden. Ein gewaltiges kollektives Gähnen durchtost zur Zeit das Land,  und Grund ist der laufende „Wahlkampf“, dessen Langweiligkeit alle bisher gewohnten Maßstäbe sprengt. So etwas hat es wohl noch nie gegeben. Das Schicksal der Nation steht (angeblich wieder einmal) auf dem Spiel, und die Nation reagiert darauf mit einem sperrangelweit herausgegähnten „Was soll’s“.

Provoziert fühlt sich – im Gegensatz zu jenem Richter in Illinois – niemand. Alle sehen, daß das Gähnen seine vollste Berechtigung hat, die führenden „Wahlkämpfer“ eingeschlossen. Von Leidenschaft oder auch nur existentieller Betroffenheit bei ihnen keine Spur. Die eine, A. M., sagt gar nichts, der andere, W. St., sagt dafür um so mehr, doch alles, was er sagt, wirkt wie aus einer uralten Aktenablage abgeschrieben. Physiklehrerin contra Kanzleirat. Umkränzt wird das Ganze von einer zugelassenen „Opposition“, deren Protagonisten sich mit ihrer Randständigkeit längst abgefunden haben und ihre Auftritte folgerichtig als kabarettistische Unterhaltungseinlage absolvieren, wo es viel zu lachen, aber nichts zu entscheiden gibt.

Ein vielbejubelter gemeinsamer Auftritt von Peter Gauweiler und Oskar Lafontaine vorige Woche auf dem Münchner Nockherberg mit gegenseitigem „Derblecken“ und Dauersottisen gegen „die da in Berlin“ war geradezu stilbildend und zukunftsweisend. Politik in Deutschland läßt sich gähnfrei nur noch als Karneval und Oktoberfest ertragen. Dem entspricht ja auch der um sich greifende Brauch, daß sich ausgesprochene Juxparteien um die Zulassung bewerben, wie zum Beispiel „die Partei“, deren Hauptprogrammpunkt darin besteht, die Berliner Mauer wiederzuerrichten.

„Comedians“ à la Hape Kerkeling erschaffen und mimen Witzfiguren, die sich in den Medien unverhofft als Kanzlerkandidat vorstellen und – laut Umfragen – immerhin bereits von achtzehn Prozent aller Fernsehzuschauer für ihre nächste Wahlentscheidung in Erwägung gezogen werden. Italienische Zustände kommen über uns. In Rom wird Politik schon seit längerem nur noch als eine Art Fernsehspiel wahrgenommen, und der bekannte Großkomiker Beppe Grillo erklärt sich allwöchentlich zum größten Politiker des Landes und fordert den Cavaliere Silvio Berlusconi unter dem Beifall zahlloser intellektueller Eierköpfe frontal zum Zweikampf heraus.

Nun könnte man sagen: Glücklich die Länder, wo Politik einen nur noch zum Gähnen bringt, als mißlungenes, aber harmloses Kasperletheater empfunden wird. Die Dinge laufen dort offenbar von allein so gut, daß ernstgemeinte Einmischung von Politikern sie nur verschlechtern könnte. Doch der Blick auf die Realitäten widerlegt diese sonnige Perspektive  gnadenlos. Die Dinge laufen keineswegs von allein gut, die neoliberalen, anarcho-kapitalistischen, „libertären“ Träume sind überall ausgeträumt, der Staat und gute Politiker werden gebraucht wie nie.

Und es verhält sich auch keineswegs so, daß über die Wege aus der Misere und über die anzuwendenden Methoden ein solches Maß an Übereinstimmung bestünde, daß überhaupt nicht mehr seriös und auch leidenschaftlich darüber gestritten werden müßte. Ganz im Gegenteil, es müßte durchaus gestritten werden, kenntnisreich und überzeugungskräftig. Angesichts der Ernstes der Lage wären wohl sogar Blut-und-Tränen-Reden fällig, und die Politiker müßten durch ihr individuelles Verhalten eindrucksvolle Vorbilder aufrichten.

Aber nichts davon passiert im gegenwärtigen „Wahlkampf“, rein gar nichts. Statt überzeugungskräftiger Argumente setzt es nur wieder abgeschlaffte, auch vom letzten Wahlteilnehmer längst durchschaute Phrasen. Statt Alternativen zu markieren, wird alles verschmiert und in den Konjunktiv verschoben. Blut- und-Tränen-Mahnungen werden ersetzt durch anbiederische „Macht weiter so“-Appelle, und statt erquicklicher Vorbilder gibt es Berichte von illegalen persönlichen Vorteilnahmen auf unterstem Niveau.

Erkennbar spielt das „Was“ in den Politikerreden und Wahlkampfberichten nur noch eine gewisse Rolle, wenn es um Dienstwagenaffären und Pöstchenschiebereien geht. Ansonsten hält sich alles im bloßen „Wie“, fragt man nur noch danach, wie eine Behauptung „optimal ankommt“, wo die Ecken sind, an denen man sich eventuell stoßen könnte, welche Konstellationen nach der Wahl einem selbst nebst Angehörigen und Kumpanen die besten Chancen bieten werden. Alles ist nur noch „Verfahren“, vulgo: nur noch Kasperletheater, und der Wähler ist im medialen Zeitalter tatsächlich leider so sehr bloßes Publikum, daß er die Politik für ein Spiel hält und Zensuren nach bloßer Spiellaune verteilt.

Freilich, in solcher Lage darf man die Langeweile nie übertreiben. Wenn es allzu langweilig wird, helfen eines Tages auch die eifrigsten Narren nicht mehr. „Nicht nur aus Hunger und Elend, sondern auch aus Langeweile können die ernstesten Revolutionen entstehen“, lehrte einst Ernst Bloch. Wird das Gähnen so laut und sperrig, daß es Kriminalprozesse stört, ist der Umschlagpunkt allem Anschein nach erreicht und die Revolution bricht aus. Insofern bewies der Richter von Illinois ein feines Gespür für die aktuell waltende Situation in seinem Gerichtssaal. Heutige Politiker in Berlin und anderswo haben dieses Gespür nicht.

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