© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/09 28. August 2009

Jedes Foto eine Frage
Das ganze Geheimnis: Herlinde Koelbl kuratiert die eigene Werkschau
Fabian Schmidt-Ahmad

Herlinde Koelbl gehört heute zu den wenigen deutschen Fotografen von internationalem Rang. Geahnt hat dies zum Beginn ihrer Karriere wohl kaum jemand. Erst 1976 – da war sie 37 Jahre alt und Mutter von vier Kindern – griff die gelernte Modedesignerin zur Kamera. Die Technik brachte sie sich selbst bei, der erste Fotoapparat gehörte ihrem Mann, und die ersten Motive waren die eigenen Kinder. „Kinder“ – so lautet auch das erste von zwölf Themen, in welche sich die über 400 Fotos umfassende Gesamtschau ihres bisherigen Schaffens gliedert, die derzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen ist.

Schnappschüsse aus einem Kinderleben, aber auch sorgfältig inszenierte Kinderporträts, bei denen Koelbl den jeweiligen Elternstolz gleich mit ins Bild bannte – schon hier wird ihre Handschrift ersichtlich: der genaue Blick auf den Menschen. Die fotografierende Soziologin nennt man sie auch, mit einer Mischung aus leichtem Spott und Bewunderung. Denn bekannt geworden ist Koelbl für Milieustudien wie dem „deutschen Wohnzimmer“, mit der ihr Anfang der 1980er Jahre der Durchbruch gelang.

Geradezu nüchtern wirkt es, wie Koelbl mit fast gleicher Perspektive und Belichtung Menschen in ihrem Wohnumfeld festhält. Doch dahinter verbirgt sich keine abstrakt-schematische Bestandsaufnahme, sondern nur Interesse: Was ist das für ein Mensch, wie wirkt er gestaltend auf sein Umfeld? Jedes der Fotos eine Frage. „Feine Leute“, Momentaufnahmen der deutschen Schickeria, werfen einen humorvollen Blick auf die Welt der Sektflöten, abgenagten Hummerschalen und doch so provinziellen Selbstdarsteller.

George Grosz wurde als Bezugspunkt genannt, doch hinkt dieser Vergleich. Denn Koelbls Blick ist nicht zynisch, niemals verurteilend. Kein skandalisierender Agitpop, sondern die Suche nach dem Menschen hinter der Fassade; mit seinen ganzen Schwächen, der Eitelkeit und auch dem Machthunger. Vielleicht ist es diese das Subjekt respektierende Herangehensweise der bald Siebzigjährigen, die nicht bloßstellen will, welche es ihr ermöglichte, Personen in einer Art zu porträtieren, die sich deren Kontrolle ungewohnt entzieht. Koelbl selbst wird immer wieder mit ihrem Credo zitiert: „Ich interessiere mich für Menschen. Aber es muß weitergehen als unter die Oberfläche. Das ist das ganze Geheimnis.“

„Spuren der Macht“, in der sie unter anderem die späteren Regierungschefs Gerhard Schröder und Angela Merkel sowie den späteren Außenminister Joseph Fischer, aber auch den Republikaner-Vorsitzenden Rolf Schlierer über acht Jahre (1991–1998) begleitete, ist das berühmteste Langzeit-Projekt der Fotografin. Die Porträt-Serie und begleitende Interviews dokumentieren eindrucksvoll, wie ein Amt den Menschen psychisch und physisch verändert.

Kaum minder bekannt sind ihre „jüdischen Porträts“. Achtzig Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgung näherte sich Koelbl neben der Kamera auch im Gespräch. Das klingt zunächst nach bundesrepublikanischem Bewältigungskitsch, jedoch sprechen die Porträts eine andere Sprache. Die mit abgedruckten Texte sind eigentlich überflüssig, Koelbl gelingt es, die Gesichter selbst ihre Geschichte erzählen zu lassen.

Neben Fotoreportagen und Porträtreihen sind auch andere, eher experimentelle Fotostudien aus Koelbls Œuvre zu sehen. Zwar zeigt sie hier Sinn für Farb- und Formspiele, für Details des menschlichen Körpers, jedoch reichen diese nicht an die Qualität ihrer Porträtfotografien heran. Die größte Foto-Collage kann der Besucher übrigens leicht übersehen. Es ist die Ausstellung selbst, welche Koelbl in ihrer Funktion als Kuratorin akkurat ausgestaltete.

Fotos: Schlafzimmer, London, 2000: Fast nüchtern wirkt es, wie Koelbl Menschen in ihrem Wohnumfeld festhält, Angela Merkel, Bonn, 1991 und 2006: Auf den Spuren der Macht

Die Ausstellung „Herlinde Koelbl. Fotografien 1976–2009“ ist bis zum 1. November im Berliner Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, täglich von 10 bis 20 Uhr, zu sehen. Ab 1. Oktober ist dienstags geschlossen. Der Katalog (Steidl Verlag, Göttingen) mit 288 Seiten kostet 28 Euro. Telefon: 030 / 2 54 86-0

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