© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/09 04. September 2009

Herrliche Zeiten und Kaiserwetter
Historienspektakel: Zahlreiche Laienschauspieler erwecken in Berlin die Epoche der Hohenzollern-Kaiser zu neuem Leben
Hinrich Rohbohm

Treten Sie zurück, bitte“, ruft der Offizier in strengem Ton. Die Menge weicht nur langsam. Die meisten recken weiter die Hälse, können sich nicht sattsehen an dem Anblick. Seine Majestät hat sich angekündigt – gleich dreifach. Wilhelm II., Friedrich III. sowie Wilhelm I. fahren in ihren Kutschen vor. Im Frack gekleidete Untertanen heben ihren Zylinder vom Kopf, schwenken ihn in der Luft. „Seine Majestät Kaiser Wilhelm, der Zweite, er lebe hoch“, ruft einer von ihnen, ein älterer Herr mit Halbglatze und gepflegtem grauen Bart. Die anderen Bürger stimmen in die Hoch-Rufe ein, darunter Damen mit Sonnenschirmen und langen Kleidern.

Es herrscht Kaiserwetter in Berlin, als auf dem Pariser Platz am Brandenburger Tor die Parade beginnt. Kavallerie reitet heran, Blauröcke zu Fuße, den Tornister auf dem Rücken festgeschnallt, das Gewehr über der Schulter. Ein Musikzug spielt auf, Yorckscher Marsch und Preußens Gloria erklingen. Dreihundert Laienschauspieler hüllten am vergangenen Wochenende das historische Berlin in eine preußisch-kaiserliche Atmosphäre ein. Die Parade war Bestandteil der diesjährigen Historiale, auf der die Kaiserzeit zwischen 1871 und 1918 thematisiert wurde. Mit dem Umzug wurde der Historiale-Markt im Nikolaiviertel beim Roten Rathaus nahe dem Alexanderplatz eröffnet.

Wie vor 100 Jahren im Mittelpunkt des Interesses: die kaiserliche Familie. Immer wieder drängen die Menschen zur Kutsche von Wilhelm II. und dessen Gattin Auguste Viktoria – eine Nähe, die zur damaligen Zeit wohl nicht so ohne weiteres möglich gewesen wäre. Geduldig läßt sich das Kaiserpaar von den zahlreichen Digitalkameras ablichten, die ihnen vor die Gesichter gehalten werden.

Schnell wird klar: Majestät Wilhelm II. ist in seiner weißen Uniform des Garde du Corps und dem goldenen Helm mit dem Adler obendrauf der Star des Tages. Gespielt wird das einstige Staatsoberhaupt von Jan Eberhardt, einem 39 Jahre alten Software-Entwickler aus Berlin-Steglitz. Mit dem Rummel um seine Person und „Familie“ geht er so gelassen, abgeklärt und routiniert um, als hätte er des Kaisers Kleider schon von Kindheit an getragen.

Dabei ist es für Eberhardt eine Premiere. Noch nie hat er eine historische Figur gespielt. Doch der letzte deutsche Kaiser fasziniert ihn. Ein Dokumentarfilm über den einstigen Regenten war es, der seine Begeisterung über den blaublütigen Preußen auslöste. Das ist fast zehn Jahre her. Seitdem sammelt Jan Eberhardt so ziemlich alles über Wilhelm II., liest alle Bücher über die Kaiserzeit, die ihm in die Hände fallen. So war es nicht überraschend, als er zu Beginn dieses Jahres für die Kaiserrolle des Historiale-Spektakels ausgewählt wurde.

Preußen-Fahnen schwenkende Zuschauer jubeln ihm zu. „Wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wieder haben“ fangen plötzlich einige aus der Menge an zu singen, ehe sich der Umzug in Richtung Alexanderplatz in Bewegung setzt. Er verläuft friedlich. Manche haben sich T-Shirts mit aufgedrucktem Kaiserfoto übergestreift. Keine Demonstranten, keine Störaktionen. Auch in den Herzen der Menschen herrscht heute Sonnenschein. Passanten, an denen die Parade vorbeiführt, blicken sich um, sind erstaunt, bekommen große Augen angesichts des geballten Anblicks voller Glanz und Gloria. Da sind die drei Kaiser in den prächtigen Kutschen zu sehen, die hoch zu Roß sitzenden Reiter in ihren grünen und roten Uniformen. Werner von Siemens und Heinrich Zille schreiten entlang, Menschen auf alten Hochrädern radeln am neugierigen Publikum vorbei, ehe die Szenerie beim Einmarsch in das Nikolaiviertel endgültig in das wilhelminische Zeitalter eintaucht. Da ist das alte Kopfsteinpflaster der Straße. Die alten Häuser, die die Umgebung vom Berlin des 21. Jahrhunderts abschirmen. Die aufgebauten Marktstände, hinter denen Verkäufer in zeitgerecht aufgemachter Kluft ihre Kunden bedienen.

Da ist die alte Frau mit ihrem Reisigsack auf dem Rücken, die vergeblich versucht, der Frau Kommerzienrat ein wenig Brennholz anzudrehen. Frau Kommerzienrat verneint, betont, daß sie so etwas niemals selbst mache. Enttäuscht zieht die Reisigfrau davon. „Keener will mein Brennholz kaufen“, murmelt sie.

Da ist der Straßenjunge, der sich trotzig, die Hände an den Hosenträgern haltend, auf dem Bürgersteig aufbaut. Plötzlich kommt der Wachtmeister. „Ick hab dich doch schon letzte Woche hier rumlungern sehen“, schnauzt er den Jungen an, packt ihn am Kragen und führt ihn unter dem Beifall der Zuschauer ab.

Unterdessen hat Kaiserin Auguste Viktoria zum Tee geladen. An einem sonnendurchfluteten Pavillon ist der Tisch bereits gedeckt, silberne Teller und Besteck liegen bereit. Der Platz an der Sonne muß warten. Denn die Menschen stehen beim Anblick der heran schreitenden Kaiserfamilie Schlange. Jeder möchte ein Foto. Die Pflicht geht vor: ganz preußisch.

 

Fotos:, Kaiser Franz Josef I. (l.) auf Staatsbesuch: Jubelnde Zuschauer, Wilhelm II. mit Familie: Software-Entwickler aus Berlin-Steglitz, Einzug durch das Brandenburger Tor: Preußens Glanz und Gloria, Preußische Truppen vor dem Berliner Dom: Keine Störungen, Wachtmeister auf dem Hochrad: Ruhe und Ordnung

 

Stichwort: Historiale: Die Historiale ( www.historiale.de ) gilt als Europas größtes Geschichtsfestival. Bereits 2006 wurde der Einmarsch der napoleonischen Truppen in Berlin nachgestellt. In diesem Jahr stand die Kaiserzeit im Mittelpunkt. Während der sieben Tage wurden zahlreiche Stadt- und Museumsführungen geboten, mit dem Ziel, die Kaiserzeit erlebbar zu machen. Höhepunkt war eine Parade vom Brandenburger Tor zum Nikolaiviertel. Im kommenden Jahr wollen sich die Veranstalter der Historiale dann den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts widmen.

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