© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/09 04. September 2009

„Nicht an das Weltfinanzsystem herangewagt“
Neoliberalismus, Erbschaftsteuer, Sozialabbau: Das Kölner Max-Planck-Institut der Gesellschaftsforschung als Ideenschmiede für linke Wahlprogramme
Lion Edler

Guido Westerwelle wurde vor einigen Wochen gefragt, ob er immer noch zu seiner Aussage stehe, daß die Gewerkschaftsfunktionärin Ursula Engelen-Kefer mehr Arbeitsplätze zerstört habe als Josef Ackermann. Westerwelle wich aus und lobte, Frau Engelen-Kefer habe schließlich „auch ihre Verdienste“ gehabt.

Daß sich Westerwelle als Prediger gegen jede staatsinterventionistische Wirtschaftspolitik nach der Finanz- und Wirtschaftskrise derart handzahm gibt, erfüllt auch den Habermas-Schüler Wolfgang Streeck, langjähriger Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, im gerade erschienenen Jahrbuch des Instituts 2009–2010 mit Genugtuung: „Mit einem Mal sind unsere Forschungsthemen hier am Institut, die in der Vergangenheit nicht wenigen als esoterisch oder wirtschaftsfremd oder ‘veraltet’ erschienen sein mögen, zum alltäglichen Gegenstand der öffentlichen Diskussion geworden. Mit einem Mal sind wir der Mainstream!“ Im das Jahrbuch eröffnenden Interview mit Streeck und dem zweiten Institutsdirektor, Jens Beckert, wendet Streeck sich gegen die „neoliberale Vorstellung, daß es der Wirtschaft um so besser geht, je staatsfreier und unpolitischer sie organisiert ist“, und sieht sich durch Auswirkungen der Finanzkrise bestätigt. Leider durfte der Staat diesmal wieder nur die Verluste sozialisieren.
Kernfamilie als veraltetes Modell kritisiert

Andererseits vermutet der Soziologe, daß es „vielleicht ein Fehler war“, sich mit seinem Forschungsinstitut nicht an das Weltfinanzsystem herangewagt zu haben. Er habe die nächste „Entwicklungsstörung des Kapitalismus“ eher infolge von immer flexibleren Arbeitsmärkten erwartet. Damit aber legt er selbst den Finger in die Wunde und zeigt, daß Sozialdemokraten und Linke keinen Grund zur Überheblichkeit haben, sind diese doch genauso wie die Liberalen von der Krise überrascht worden. An das Interview schließen sich eine Reihe von Aufsätzen an, die sehr breit gefächert von der Erbschaftsteuerreform 2009 über die sinkende Wahlbeteiligung bis hin zur „nachhaltigen Forstwirtschaft in einer globalisierten Welt“ reichen.

Jens Beckert kritisiert die „Ausweitung der steuerlichen Privilegierung von Erbschaften innerhalb der Kernfamilie“, die sich an einem Familienmodell orientiere, das „die Familie als bestehend aus den Eltern und ihren gemeinsamen biologischen Kindern“ definiere. Der Erbschaftsteuerreform sei ein „veraltetes Familienmodell“ zugrunde gelegt worden. Beckert hat einen schrecklichen Verdacht: „Wurde hier das Erbschaftsteuerrrecht als Instrument zur Durchsetzung normativer Vorstellungen von Familie genutzt?“

Schon interessanter sind die Ausführungen von Armin Schäfer über die sinkende Wahlbeteiligung in Deutschland. Der Trend der Wahlbeteiligung sei gerade deshalb bedauerlich, weil besonders Bürger mit niedrigem Bildungsgrad und geringem Einkommen unter den Nichtwählern sind und daher nicht mehr ausreichend repräsentiert werden. Sobald Politiker merken würden, daß bestimmte Gruppen ohnehin nicht wählen, richteten sie ihr Augenmerk nur noch auf die verbliebenen Wählerschichten.

Daß politische Mitwirkung in Parteien mehr und mehr durch weniger konventionelles Engagement in Bürgerinitiativen, Petitionen oder Demonstrationen ersetzt wird, sei dabei auch kein Trost, da diese Betätigungen noch stärker sozial verzerrt seien. Um Wahlen wieder attraktiver zu machen, sei es daher laut Schäfer die vorrangige Aufgabe der Politik, zu verhindern, daß soziale Ungleichheit ausufere.

Wie das gelingen soll, verrät uns dieses perspektivische Jahrbuch allerdings genausowenig wie das in etwas populistischerer Form den Wahlkampf steuernde Programm der Genossen Lafontaine und Gysi. So ist es schade, daß man sich trotz manch interessanter Statistiken nur auf die üblichen ideologisch geprägten Allgemeinplätze zurückzieht.

Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Hrsg.: Jahrbuch des Instituts 2009–2010, Köln 2009, broschiert, 120 Seiten, als PDF-Version unter www.mpifg.de

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