© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/09 11. September 2009

Mehr als ein Riß in der Mauer
Am 11. September 1989 öffnete Ungarn endgültig seine Westgrenze für alle DDR-Bürger – Todesstoß für das SED-Regime
Jörg Fischer

Da preist man uns das Leben großer Geister / Das lebt mit einem Buch und nichts im Magen / In einer Hütte, daran Ratten nagen. / Mir bleibe man vom Leib mit solchem Kleister! / Das simple Leben lebe, wer da mag! / Ich habe (unter uns) genug davon / Kein Vögelchen, von hier bis Babylon / Vertrüge diese Kost nur einen Tag. / Was hilft da Freiheit, es ist nicht bequem / Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm (…) / Das eine wisset ein für allemal: / wie ihr es immer schiebt und immer dreht / zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.

Erst muß es möglich sein, auch armen Leuten vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden“, heißt es in der „Ballade vom angenehmen Leben“ aus Bertolt Brechts 1928 uraufgeführter Dreigroschenoper. Mehr als sechs Jahrzehnte später sollte sich dann erneut erweisen, welche weltverändernde Kraft aus dieser in allen politischen Systemen gültigen Lebensweisheit entspringen kann.

Das Wendejahr 1989, in dem zuerst die tödlichen Grenzen und wenig später die dazugehörigen Regime im sowjetischen Machtbereich einstürzten, wird zum zwanzigsten Jubiläum in Deutschland medial besonders gewürdigt, was nicht wenige zur Verklärung oder Beschönigung ihrer damaligen Rolle nutzen. Entscheidendes wie die ungarische Grenzöffnung für DDR-Bürger in der Nacht zum 11. September 1989 wird kleingeredet, weniger wichtiges wie die von SED und Stasi mitgesteuerte Großkundgebung am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz aufgebauscht.

Tatsächlich ging es den anfänglich wenigen tausend mutigen DDR-Oppositionellen damals um mehr Bürgerrechte wie Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, wie es beispielsweise in einem „Flugblatt für die Demokratie“ des Demokratischen Aufbruch (DA) von Mitte September 1989 heißt. Doch der DA (dem zur Wendezeit auch Angela Merkel angehörte) betonte wie viele andere zugleich: „Seine Mitglieder wehren sich gegen die Unterstellung, die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurückreformieren zu wollen. Sie stehen ein für die Umgestaltung untragbarer Zustände, um die zukünftige Existenz der DDR als Friedensfaktor in Europa zu ermöglichen.“ Sie kämpften für eine bessere DDR ohne Honecker.

Doch Zehntausende – nach außen hin angepaßte – DDR-Bürger wollten sich längst nicht mehr mit einer „sozialistischen Gesellschaftsordnung auf demokratischer Basis“, von der viele Intellektuelle in Ost und West träumten, zufriedengeben. Sie ließen alles Irdische zurück, strömten ab 11. September 1989 unaufhörlich über die offene ungarisch-österreichische Grenze und dann oft ohne Zwischenhalt weiter nach Bayern. Sie wollten diese magere DDR-Kost keinen Tag länger mehr erdulden müssen. Sie schätzten auch die Freiheit, alle Bücher lesen zu können – mehr jedoch Reisefreiheit und Wohlstand. Die nach 1949 zu armen Verwandten abgestiegenen Deutschen wollten endlich auch kapitalistische Verhältnisse, um sich ihren Teil vom großen Brotlaib erarbeiten zu können.

Diese DDR-Verräter wußten schon damals (oder ahnten zumindest), was der SED-ZK-Sekretär für Wirtschaft, Günter Mittag, 1991 freimütig in einem Spiegel-Interview bekannte: „Der ökonomische Kollaps deutete sich 1981 an und wurde 1983 offensichtlich“, erklärte der 1989 wegen der Erkrankung Erich Honeckers vorübergehend mächtigste Mann in der DDR. „Ende 1987 kam ich zu der Erkenntnis: Jede Chance ist verspielt. Vom Osten war keine Hilfe möglich, und zum Westen konnte die Wende zur umfassenden Wirtschaftskooperation wegen latent wirkender politischer Widerstände in unseren Reihen nicht erfolgen. Ohne die Wiedervereinigung wäre die DDR einer ökonomischen Katastrophe mit unabsehbaren sozialen Folgen entgegengegangen, weil sie auf Dauer allein nicht überlebensfähig war.“

Naivität gab es 1989 auch im Westen: „Können die Menschen in der DDR erst einmal frei und demokratisch entscheiden, was spielt es dann noch für eine Rolle, mit welchem Nummernschild am Auto sie nach Spanien in Urlaub fahren“, schrieb Oskar Lafontaine zwei Wochen nach der ungarischen Grenzöffnung und in Verkennung der ökonomischen Lage der DDR im Spiegel. Daß die Menschen in der DDR mit ihrem Trabant und inflationierter DDR-Mark nicht bis Spanien gekommen wären ist das eine. Wie wichtig auch das Nationalitätenschild am Auto war, konnte der damalige SPD-Vize im Fernsehen sehen: die meisten hatten das äußere D und R im DDR-Kennzeichen schon durchgestrichen, bevor sie in Nickelsdorf erstmals österreichischen Boden erreichten.

Am 11. September 1989 öffnete sich mehr als ein „erster Riß in der Mauer“, wie es der Titel des Buchs des Zeithistorikers Andreas Oplatka formulierte (JF 17/09). Erst die täglichen Fernsehbilder des unaufhörlichen Flüchtlingsstroms derjenigen, die das simple DDR-Leben satt hatten, ermutigten dann immer mehr „rechtschaffene Bürger“, auf die Straße zu gehen. Und diese Massen riefen bald nicht mehr die geopolitisch korrekte Parole „Wir sind das Volk!“, sondern „Wir sind ein Volk!“. Denn in einer reformierten DDR hätten sie vielleicht Bücher großer Geister lesen können – aber garantiert mit weniger im Magen als unter Günter Mittag.

Am Mittwoch, den 16. September bringt der Sender 3sat um 18 Uhr die Dokumentation „Das Tor ist offen – Flucht und Freiheit 1989“

Foto: DDR-Autos passieren am 11. September 1989 den Eisernen Vorhang: Jede Chance war verspielt

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen