© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/09 18. September 2009

Es kann nur einen geben
Er ist der Inbegriff des ehrlichen Rock’n’Roll: Bruce Springsteen wird sechzig
Silke Lührmann / Thorsten Thaler

Er habe „die Zukunft des Rock’n’Roll gesehen“, schwärmte der junge Musikkritiker des Rolling Stone, Jon Landau, im Mai 1974 über den jungen Bruce Springsteen nach dessen Auftritt im Harvard Square Theatre in Boston. Längst hat sich seine Prophezeiung bewahrheitet und damit überholt.

Springsteen, der am 23. September sechzig wird, ist noch kein Mann von gestern – aber doch einer, der diejenigen von uns, die trotz aller Irrungen und Wirrungen, trotz aller kurzatmigen Moden an das Gute, Wahre und Schöne im Rock’n’Roll glauben wollen, zuverlässig durch die vergangenen Jahrzehnte geleitet hat. Unzählige Tribute zeugen davon, wie sehr die Fans dies weltweit zu schätzen wissen: der lebensgroße Schokoladen-Bruce, den ein spanischer Konditor unlängst voller Stolz auf Springsteens offizieller Internetseite präsentierte, ebenso wie zahlreiche literarische Huldigungen.

Eine der aufwendigsten Ehrerbietungen kommt jetzt von dem Musikjournalisten Dave Marsh, der bereits die beiden frühen Springsteen-Biographien „Born to Run“ (1979) und „Glory Days“ (1987) verfaßte. Seine soeben erschienene, prächtig ausgestattete Bildbiographie „Bruce Springsteen“ stellt jedoch alles in den Schatten, was es bislang über „The Boss“ gab. Mehr Springsteen geht einfach nicht.

Dabei unternimmt Marsh erst gar nicht den Versuch, sich den Anschein eines „unabhängigen“ neutralen Beobachters zu geben. Vielmehr weist er gleich in seiner Einleitung darauf hin, daß dieses Buch „aus der Sicht eines Fans“ geschrieben wurde. Daß man seinem Urteil trotzdem blindlings vertrauen darf, kann jeder bestätigen, der auch nur ein Live-Konzert Springsteens gesehen hat.

Von seinen Anfangsjahren bis heute im reifen Alter – immer wieder stellt Bruce Springsteen unter Beweis, daß er einer der größten Erzähler des Rock’n’Roll und einer der begnadetsten Bühnenmusiker überhaupt ist. Springsteen- Konzerte sind eine Messe für die Seele, eine einzige Offenbarung für jedes rockige Herz. Für Dave Marsh ist „Springsteen“ ein Verb. „In erster Linie bedeutet es: träumen, leben, den Traum leben.“ So wie in „Thunder Road“, einem der frühen Glanzstücke Springsteens: „Heaven’s waiting on down the tracks/ Oh-oh come take my hand/ Riding out tonight to case the promised land“ (Der Himmel wartet da draußen./ Komm jetzt, nimm meine Hand,/ wir gehen auf Jagd,/ wir jagen das gelobte Land.)

Der erfolgreiche Romanschriftsteller Nick Hornby („High Fidelity“) hat in „31 Songs“ in hymnischen Tönen beschrieben, wieviel ihm Springsteen bedeutet: „‘Thunder Road’ weiß, was ich fühle und wer ich bin, und das ist letztlich eine der Tröstungen, die die Kunst zu bieten hat.“ Hornbys Landsmann Sarfraz Manzoor betitelte seine Reminiszenzen an „Race, Religion and Rock’n’Roll“ im England der achtziger Jahre als Hommage an Springsteens zweites Album „Greetings from Bury Park“.

Daß ebenjenes Gute, Wahre und Schöne bei den Präsidentschaftswahlen 2008 auch eine Art politischen Ausdruck fand (JF 6/09), war eine gänzlich unverhoffte Entwicklung. Lange zuvor schon kam Springsteen das Verdienst zu, den eher unansehnlichen „Garden State“ New Jersey in die musikalische Landkarte eingeschrieben zu haben: eine Gegend, in deren Topographie und Bevölkerung kaum zwei Jahrhunderte industrieller Raubwirtschaft tiefe Narben hinterlassen haben, gelobtes und verfluchtes Land. Wie meistens bei echter Kunst ist das Konkrete auch metaphorisch, das Metaphorische als konkrete Auskunft über das Hier und Jetzt zu verstehen. Das wohl unverwindbare Trauma einer katholischen Erziehung findet in Springsteens Texten ebenso Ausdruck wie der Traum von einem Amerika, das endlich hält, was es schon so lange verspricht.

Neben den gut 300 Seiten, die Greil Marcus einem einzigen Dylan-Song widmet (dt.: „Bob Dylans Like a Rolling Stone: Die Biographie eines Songs“, 2005), nimmt sich Louis P. Masurs „Biographie“ – akkurater wäre: Hagiographie – des dritten Springsteen-Albums „Born to Run“ (1975) noch bescheiden aus. Mit der obsessiven Akribie des eingeschworenen Fans zeichnet Masur, im bürgerlichen Leben Geschichtsprofessor, nicht nur die Entstehungsgeschichte jener Platte, sondern auch Springsteens vorherigen Werdegang nach: von der nicht ganz einfachen Kindheit (die Mutter devot und bienenfleißig, der Vater ein jähzorniger Trinker, der Bankrott „immer nur ein oder zwei Rechnungen entfernt“) über erste Erfolge in der örtlichen Musikszene bis zum Vertrag mit Columbia Records.

Als spreche die Musik nicht für sich, bedient Masur sich ausführlich aus dem öffentlich zugänglichen Zitatenschatz – Songtexte, Bühnenmonologe, Interviews und andere Presseartikel –, um Springsteens Status als „amerikanischer Archetypus“ und den seines Durchbruch-Albums als „amerikanisches Meisterwerk“ ein für allemal zu etablieren. Nachdem – nach knapp achtzig Buchseiten und monatelanger Quälerei im Studio – die letzte Note eingespielt und abgemischt ist, folgt eine mehrseitige Exegese jedes einzelnen Stücks sowie eine lange Coda über die nächsten 34 Jahre. Man braucht Masurs Buch nicht gelesen zu haben, um „Born to Run“ zu lieben – aber man sollte „Born to Run“ schon lieben, um es zu lesen.

Auch hierzulande lief in manchem deutschen Jugendzimmer keine andere Platte in der Stereoanlage, drückten Lieblingsstücke wie der Titelsong, „No Surrender“ oder eben „Thunder Road“ die eigenen Sturm-und-Drang-Sehnsüchte Akkord für Akkord aus. „Greetings from Asbury Park, N. J.“ und „The Wild, the Innocent and the E Street Shuffle“ (beide 1973) waren ungeschliffene Diamanten, die der Entdeckung harrten; die dunkleren, leiseren Klänge von „Darkness on the Edge of Town“ (1978) und die schnörkellose Brillanz von „Nebraska“ (1982) zunächst gewöhnungsbedürftig, während „The River“ (1980) – so rockig, so verdammt romantisch – beim allerersten Hören ins Ohr ging.

Manch ermüdende Diskussion über „Born in the U. S. A.“ (1984) mit uneingeweihten Zeitgenossen, die den Titelsong wie Ronald Reagan als Ausdruck eines unkritisch-dumpfen Patriotismus mißverstanden, hätte man sich gerne erspart, ebenso wie den nagenden Zweifel, ob der zum kraftstrotzenden Stadionrocker Mutierte inzwischen zu erfolgreich war, um noch wirklich gute Musik zu machen. So schwer sich die Heirat des Idols mit Julianne Philipps im Folgejahr verschmerzen ließ – mußte es ausgerechnet ein Supermodel sein? –, so gerne gönnte man ihm dann das Eheglück mit seiner rothaarigen Background-Sängerin Patti Scialfa, schienen sie doch seit dem ersten gemeinsamen Bühnenauftritt wie füreinander geschaffen. (Weniger gut stimmte offenbar die Chemie mit der E Street Band, der Springsteen nach anderthalb gemeinsamen Jahrzehnten 1989 den vorläufigen Laufpaß gab.)

Und dann wurde der „Boß“ ernst und erwachsen, präsentierte sich auf dem Cover von „Tunnel of Love“ (1987) plötzlich mit Krawatte statt des verwegenen Stirnbands und in den neuen Stücken poppig und sentimental. Wer ihm in den Dürrezeiten der frühen Neunziger ein wenig untreu geworden war und sich „Human Touch“ und „Lucky Town“ (beide 1992) nur noch der Vollständigkeit halber angeschafft hatte, horchte wieder auf, als 1995 „The Ghost of Tom Joad“ erschien, das in seinem eindringlichen Minimalismus auf „Nebraska“ zurückverwies und mit seinem sozialen Gewissen auf „We Shall Overcome: The Seeger Sessions“ (2006) vorausdeutete.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erkoren ihn die New Yorker Feuerwehrmänner zu ihrem Fürsprecher: Dieser öffentlichen Verantwortung als Held der Helden bemühte er sich mit „The Rising“ (2002) hörbar gerecht zu werden, um sie sogleich wieder abzuschütteln: Das Soloalbum „Devils & Dust“ (2005) und „Magic“ (2007), wie schon „The Rising“ endlich wieder mit der grandiosen E Street Band aufgenommen, klingen nicht mehr triumphal, vielmehr besonnen und geläutert, in Ansätzen geradezu experimentell, während mit „Working on a Dream“ (2009, JF 9/09) eigentlich alles gesagt ist – nicht musikalisch, aber immerhin programmatisch –, was man über Springsteens Laufbahn wissen muß.

Ob sich die lebenslange schweißtreibende Arbeit gelohnt hat, ob der Traum je zu vollenden ist, vor allem aber: wie die Zukunft des Rock’n’Roll aussehen wird, wenn Springsteens Generation einmal abgetreten ist, bleibt fraglich. Wer etwa The Hold Steady live erlebt hat, weiß aber: Neben all den Killers und Kings of Leon, die ihre Musikerkarriere schamlos als Geschäft betreiben, gibt es auch heute noch Vollblutrocker, würdige Gralshüter des Guten, Wahren und Schönen, das mitunter wunderbar dreckig und laut klingen kann. Der King of Pop mag tot sein, lang lebe die Rockmusik!

Louis P. Masur: Born to Run. Bruce Springsteens Vision von Amerika. Rogner & Bernhard, Berlin

2009, gebunden, 288 Seiten, 9 Abbildungen, 19,90 Euro Dave Marsh: Bruce Springsteen. Edel, Hamburg 2009, gebunden, 324 Seiten, 49,95 Euro

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