© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/09 18. September 2009

Auf der Suche nach Substanz in den Resten
Zu den Deutungsproblemen eines geflügelten Böckenförde-Wortes zu den „Voraussetzungen“ eines freiheitlich-säkularisierten Staates
Nicolas Lewald

Carl Schmitt gilt als hinlänglich berüchtigt. Aber berühmt ist er nicht zuletzt wegen seiner büchmanntauglichen „ersten“ und zahlloser weiterer sentenziöser Sätze. Die stilistische Prägnanz des Staatsrechtlers wirkte indes nicht schulbildend. Weder Ernst Forsthoff noch Ernst Rudolf Huber oder Wilhelm Weber, allesamt Meister der Feder, verfügten über eine vergleichbare Gabe, die Dinge „auf den Punkt“ zu bringen.

Unter den Enkelschülern Schmitts gelang nur dem nachmaligen Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde ein einziges Mal ein ähnliches Sprachkunststück. In seinem Beitrag zur Forsthoff-Festschrift fand sich 1967 der Satz: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Dies ist die inzwischen wohl am meisten zitierte Wendung in der von zunehmender Ratlosigkeit gekennzeichneten Diskussion zum Thema „Was hält die Gesellschaft zusammen?“ Im Frühjahrsheft der Zeitschrift für Politik (ZfP, 2/2009) hat sich der mit Publikationen zur katholischen Sozialphilosophie bekannt gewordene Felix Dirsch Böckenfördes geflügeltem Wort angenommen. Was sind das eigentlich für „Voraussetzungen“, von denen der demokratische Parteienstaat zehrt, ohne sie zu erzeugen?

Bei dem „Linkskatholiken“ Böckenförde liegt es nahe, dabei nach „Werten“ zu suchen, die im Glauben wurzeln. Zumal 1967, unter dem frischen Eindruck des Zweiten Vatikanischen Konzils. Aber Böckenförde, so meint Dirsch, fährt dabei durchaus zweigleisig. Die „Voraussetzungen“, die der moderne Staat benötigt, mögen sich zwar aus dem Wertgefüge der christlichen Religion speisen. Aber der Satz sei auch als Angebot an seine Glaubensgenossen zu verstehen, auf ihrem im Vatikanum eingeschlagenen Weg, die Kluft zwischen katholischer Kirche und moderner Welt zu schließen, voranzuschreiten. Indem die Kirche jene Ressourcen liefert, die dem säkularisierten Staat vorauslägen, werde sie selbst zur „konstruktiven Mitwirkung im freiheitlichen Gemeinwesen“ aufgefordert.

Trotzdem will Dirsch hier keinen Einstieg in die „Politische Theologie“ nach der Manier Carl Schmitts erkennen. Böckenförde argumentiere nur noch „residualtheologisch“ oder „residualreligiös“. Hier liege er ganz auf der Linie der „Schule von Münster“ Joachim Ritters, die sich bei ihrer Schmitt-Aneignung darum bemühte, die Radikalität des Plettenberger Meisters zu dämpfen, um sie mit „liberalen Auffassungen kompatibel“ zu machen. Böckenförde wolle also nur noch „Reste“ des Religiösen als sozialintegrativen Energiespeicher offerieren. Diese „Reste“, das seien die „freiheitsstiftenden Kräfte“ der Religion. Ob damit noch genügend Substanz in solchen „Resten“ verbleibt, ob die Kirche als Hilfsagentur des Staates nicht als eine unter vielen Sozialstationen endet, bleibt fraglich. Vielleicht, so legt Dirsch nahe, verfahre dann die fast gleichzeitig mit Böckenfördes „Satz“ veröffentlichte „Legitimität der Neuzeit“ Hans Blumenbergs konsequenter. Blumenbergs „Rechtfertigung der Neuzeit“ werfe den Ballast religiös-theologischer Tradition „mit Verve“ ab und verteidige die – von Schmitt als „Promethiden-Wahn“ gegeißelte – Selbstermächtigung des Menschen, der „die Fundamente seines Handelns nur aus sich selbst gewinnt“. Man käme dann eben doch ohne das von Böckenförde überdies nie präzise definierte „gewisse Etwas“ vorneuzeitlicher „Voraussetzungen“ aus.

Daß es nicht einmal religiöser „Reste“ bedürfe, um „sozialen Kitt“ für moderne Gemeinwesen zu gewinnen, ergibt sich im selben ZfP-Heft aus der Skizze „Völkerrecht und Zukunft“, die der Botschafter a. D. Rudolf Schmidt als „Zuruf eines Außenseiters“ auf der Suche nach einer universalen „Ethik der Zukunft“ vorträgt. Der seit dem 19. Jahrhundert ins Werk gesetzte „Umbau des Planeten“ stelle die Menschheit heute vor die Überlebensfrage. Aus der existentiellen Entscheidung, „das Erdsystem zu bewahren“, um den Fortbestand der menschlichen Spezies zu sichern, würde eine pragmatisch-diesseitige, gänzlich areligiöse und nicht-metaphysische, gleichwohl gemeinschaftsstiftende, verbindliche Wertordnung resultieren, eine Art ökologischer Imperativ der Bewahrung und verantwortlichen Bewirtschaftung des Planeten im Geiste von Hans Jonas: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“

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