© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/09 25. September 2009

Der Preis der Einheit
Geschichtspolitik: Der Bund der Vertriebenen blickt in Berlin auf 60 Jahre Vertriebenenpolitik in der Bundesrepublik zurück
Ekkehard Schultz

Als Bundeskanzler Konrad Adenauer am 20. September 1949 im Deutschen Bundestag seine erste Regierungserklärung vortrug, spielte in dieser Rede neben dem Wiederaufbau der Infrastruktur und wirtschaftlichen Reformen die Lage der Vertriebenen in die Bundesrepublik die wichtigste Rolle. Adenauer erinnerte daran, daß das Los der Flüchtlinge „besonders hart“ und eine Lösung innerhalb der kommenden Jahre unumgänglich sei, schon um Westdeutschland nicht „für längere Zeit zu einem Herd politischer und wirtschaftlicher Unruhe“ werden zu lassen.

Dazu gehörte für ihn nicht nur die Bereitstellung sozialer Hilfen, welche die Integration der Vertriebenen fördern sollten. Adenauer wies auch ausdrücklich darauf hin, daß die endgültige Bestimmung der Westgrenze bis zu einer Friedenskonferenz vertagt werden müsse. „Wir werden nicht aufhören, in einem geordneten Rechtsgang unsere Ansprüche auf diese Gebiete weiterzuverfolgen“, sagte Adenauer.

Doch diese Gedanken sollten nur bis Ende der sechziger Jahre Leitlinie in der westdeutschen Politik bleiben. Seither hat sich in der Vertriebenenpolitik in der Bundesrepublik viel geändert. Der Bund der Vertriebenen (BdV) unternahm am Wochenende in Berlin den Versuch, eine Bilanz über sechzig Jahre Vertriebenenpolitik in Westdeutschland zu ziehen. Während Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) ein Resümee aus Sicht der Politik zog, nährte sich der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Horst Müller, dem Thema aus historischer Sicht.

Schäuble erinnerte daran, daß im Jahr von Adenauers Regierungserklärung in einer Umfrage mehr als 95 Prozent der Vertriebenen angaben, in der Bundesrepublik „schlecht behandelt“ zu werden. Tatsächlich war diese Unzufriedenheit nur allzu berechtigt. Die Mehrzahl der Flüchtlinge war in engen Notquartieren am Rande der Städte und Dörfer untergebracht. Viele waren in Wohnungen zwangseinquartiert, in denen oft nur die Mindestfläche von zweieinhalb Quadratmetern pro Person zur Verfügung stand. Zudem wurde der größte Teil der Vertriebenen von der einheimischen Bevölkerung gemieden wenn nicht gar angefeindet. In diesem Sinne stelle die Behandlung der Flüchtlinge in den ersten Nachkriegsjahren in Westdeutschland „kein Ruhmesblatt“ dar.

Um so wichtiger waren die Bemühungen der Adenauer-Regierung, so Schäuble, diese unhaltbare Situation zu verbessern. Dazu war es notwendig, sich stärker in die Menschen hineinzuversetzen, die von diesem Schicksal unmittelbar betroffen waren, doch daran keine größere Schuld trugen als die Bewohner Westdeutschlands. Damit stand die junge Bundesrepublik am Beginn eines langen und nicht einfachen Lernprozesses, der zum Teil heute noch nicht abgeschlossen sei. Wesentlich war neben den frühen Bemühungen um einen wirtschaftlichen Lastenausgleich für die Vertriebenen das feste Bekenntnis, daß mit der Vertreibung der Deutschen aus dem Osten diese Geschichts- und Kulturtraditionen nicht verlorengehen dürften, sondern Teil des gesamtdeutschen Bewußtseins werden sollten. 

Aus diesen Gründen seien im Laufe der folgenden Jahrzehnte nicht nur ostdeutsche Kulturprojekte finanziell unterstützt worden. Im Hinblick auf das geplante Zentrum gegen Vertreibungen verwies Schäuble darauf, daß es wichtig sei, diejenigen in Schutz zu nehmen, denen – „in welcher Form auch immer“ – verweigert werden solle, an ihre Vorfahren zu erinnern. Von derartigen Forderungen, die sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene erhoben werden, „dürfen wir uns niemals beeindrucken und einschüchtern lassen“, sagte Schäuble. „Leid und Unrecht müssen benannt und thematisiert werden können.“

Auch Horst Möller wies darauf hin, daß die Integration der Vertriebenen keineswegs reibungslos verlaufen sei und deshalb auch im Rückblick nicht idealisiert werden dürfe. Dennoch seien die grundlegenden Probleme bis zum Ende der sechziger Jahre erfolgreich gelöst worden. Dabei habe zum einen der am 14. August 1952 vom Bundestag beschlossene Lastenausgleich eine wichtige Rolle gespielt. Denn zu diesem Zeitpunkt waren noch ein Drittel aller Vertriebenen in der Bundesrepublik arbeitslos; viele von öffentlichen Wohlfahrtsleistungen abhängig. Durch die günstige wirtschaftliche Entwicklung gelang jedoch in den Folgejahren die Integration der meisten Vertriebenen in den Arbeitsmarkt.

Zudem leisteten die Vertriebenen selbst zu ihrer Integration einen herausragenden Beitrag. Dazu zählt vor allem der frühe Verzicht auf Rache und Vergeltung, der in der Charta der Heimatvertriebenen vom 6. August 1950 zum Ausdruck kam, ohne jedoch zugleich auf ihre eigenen Ansprüche und die Forderung nach deutscher Einheit zu verzichten. 

Allerdings sei die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze 1990 letztlich der Preis für die deutsche Einheit von 1990 gewesen, sagte Möller. Denn durch die Zwei-plus-Vier-Vehandlungen habe sich „die Bundesrepublik langjährige Friedensverhandlungen erspart“, die mit insgesamt 57 Staaten, die Deutschland zwischen 1939 und 1945 den Krieg erklärt hatten, notwendig gewesen wären. Dies hätte langfristige Verhandlungen bedeutet und den Weg zur Wiedervereinigung noch für längere Zeit versperrt.

Freilich mußte für diesen Schritt jedoch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Wie bei den Vertriebenen mußte insbesondere auch in den Unionsfraktionen für den endgültigen Verzicht erst geworben werden. Der Verzicht auf die Durchsetzung des „Rechts auf Heimat“ sei der „größte Beitrag“ der Vertriebenen zur Wiedervereinigung, so Möller.

In der folgenden Diskussion erinnerte der Welt-Journalist Gernot Facius indes daran, daß mit dem faktischen Verzicht auf die deutschen Ostgebiete gleichwohl „grundlegende Dinge nicht gelöst wurden“. Denn im heutigen Europa wurden „Vertreibungsdekrete immer noch nicht aufgehoben“, erinnerte Facius. Zudem führe die tschechische Regierung keine offiziellen Gespräche mit den Sudetendeutschen, obwohl es auf anderen Ebenen zahlreiche Kontakte gebe.

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