© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/09 02. Oktober 2009

Das geteilte Dorf
Deutsche Einheit: Bis 1990 war Mödlareuth in Thüringen von einer Mauer durchzogen, heute erinnert ein Museum an „Klein-Berlin“
Hinrich Rohbohm

Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, sagte der damalige DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht am 15. Juni 1961 auf einer internationalen Pressekonferenz. Zwei Monate später wurde die Mauer in Berlin gebaut, die die deutsche Hauptstadt jahrzehntelang wie eine lange häßliche Narbe durchziehen sollte.

Der Bau ist Geschichte – genau wie die zwei Jahre später gehaltene „Ich bin ein Berliner“-Rede John F. Kennedys, die zahlreichen Fluchtversuche und die dabei Erschossenen. Am 9. November 1989 fiel der eiserne Vorhang, Bürger rissen das in Beton gegossene ideologische Machwerk ein, ehe am 3. Oktober 1990 vor dem Brandenburger Tor Ost- und Westdeutsche ungehindert von Barrikaden, Stacheldraht und Maschinenpistolen gemeinsam die deutsche Einheit feierten.

Eher unbekannt ist dagegen das Dorf Mödlareuth. Dabei verfügt es über ähnliche Symbolkraft wie die Bundeshauptstadt an der Spree. Denn auch das gerade einmal 50 Einwohner zählende Dorf wurde durch eine Mauer zerschnitten: ein schmerzhafter Schnitt mitten in Herz und Seele der Mödlareuther Dorfgemeinschaft. Schnell hatte der Ort seinen neuen Namen weg: Klein-Berlin.

Heute ist Mödlareuth zum Anlaufpunkt für Touristen geworden. Als ein Bagger am 17. Juni 1990 die Mauer eindrückte, war das Dorf nach über 40 Jahren wieder vereint. Ein Plakat, das an einem Maschendrahtzaun mit Stacheldraht befestigt ist, erinnert an das freudige Ereignis. Es zeigt einen Bagger, der die Mödlareuther Mauer einreißt. „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen“ ist darauf zu lesen. Gleichzeitig wird die Wiedervereinigung Deutschlands zur Geburtsstunde für das Deutsch-Deutsche Museum. Noch heute sind die Überreste des Überwachungsterrors in dem Ort zu besichtigen. Allein im vergangenen Jahr kamen rund 60.000 Besucher. „Für uns ist das Museum schon eine enorme wirtschaftliche Bereicherung“, stellt ein einheimischer Gastronom zufrieden fest.

Trotzdem ist das Dorf noch heute geteilt. Nach wie vor gehört der westliche Teil zum Freistaat Bayern, der östliche zu Thüringen. „Auf eine Zusammenführung konnte man sich nicht einigen, weil keiner auf Einkommen- und Gewerbesteuern verzichten wollte“, erklärt Museumsmitarbeiter Daniel Wolfram gerade Schülern des Weimarer Goethe-Gymnasiums. Die Elftkläßler aus dem Geschichtskurs hatten sich bei ihm zu einer Führung angemeldet.

Wolfram verdeutlicht ihnen, daß die Teilung des Ortes erheblich weiter zurück reicht. Es ist das Jahr 1810, daß sich als Schicksalsjahr für den Ort erweist. Entlang dem Tannbach werden Grenzsteine gesetzt: „KB“ für Königreich Bayern auf der westlichen und „FR“ für Fürstentum Reuß auf der östlichen Seite. Mödlareuth untersteht von nun an zwei unterschiedlichen Landesherren. Das bleibt auch nach dem Ersten Weltkrieg so. Der Westteil zählt fortan zum Freistaat Bayern, der Osten zum Land Thüringen. Doch was sich lange Zeit als bloße Verwaltungsgrenze kaum auf die Dorfgemeinschaft auswirkt, ist nach dem Zweiten Weltkrieg für die Alliierten die Grundlage für die Einteilung ihrer Besatzungszonen.

Plötzlich entschwindet der östliche Ortsteil hinter dem kommunistischen Eisernen Vorhang, gehört zur DDR. Im Mai 1952 besteht ebendieser Vorhang zunächst in Form eines zehn Meter breiten Kontrollstreifens, bei dessen Betreten der Einsatz von Schußwaffen erfolgen kann. Das grenznahe Hinterland läßt die DDR-Regierung in einen 500 Meter breiten Schutzstreifen sowie eine fünf Kilometer tiefe Sperrzone unterteilen. Den Dorfbewohnern werden nächtliche Ausgangssperren auferlegt, Versammlungsverbote angeordnet. Mödlareuth wird zum Spielball der Weltpolitik, zum Symbol des Kalten Krieges. Das gesellschaftliche und kulturelle Zusammenleben im Ort ist dadurch stark beeinträchtigt.

Bereits 1952 trennt ein Bretterzaun das Dorf. Doch noch ist es möglich, mit einem Passierschein den Tannbach zu überqueren, Nachbarn zu besuchen oder auf der anderen Seite liegende Felder zu bewirtschaften. Schon bald folgt dem Bretterzaun Stacheldraht, dem  Stacheldraht folgt Beton. Wachtürme werden errichtet, Scheinwerfer installiert. Grenzsoldaten kontrollieren den Todesstreifen.

Ein spontaner Nachbarschaftsbesuch ist nicht mehr möglich. „Die Leute von West-Mödlareuth müssen nun erst nach Hof fahren, von dort mit dem Zug nach Plauen und von Plauen zurück nach Mödlareuth“, erklärt Daniel Wolfram. Vor dem Grenzzaun stehend, hält er eine Mine hoch – eine jener Minen, die Flüchtende daran hindern sollten, in den Westen zu gelangen. „Die Minen sollten nicht töten, sondern nur verletzen“, erklärt Wolfram. Aber: „Manche sind dabei einfach verblutet.“

Auf der DDR-Seite werden im Verlauf des Kalten Krieges die Restriktionen immer schärfer. Selbst das Zuwinken eines Nachbarn aus dem Westteil ist untersagt. Wachtürme, Scheinwerfer und Stacheldraht prägen das Dorfbild. Manche Bürger hängen Bettlaken aus dem Fenster: ein weißes, wenn sie die Grenze passieren dürfen, ein buntes, wenn die Grenzsoldaten einen Besuch nicht gestatten.

 „Man kannte sich ja und duzte sich sogar mit den Soldaten. Wenn die dann aber plötzlich wieder mit dem ‘Sie’ anfingen bedeutete das nichts anderes, als das die Wachleute ebenfalls überwacht wurden“, verdeutlicht Wolfram.

Neben den scharfen Grenzüberwachungen leiden die Mödlareuther zu dieser Zeit noch unter einer weiteren Maßnahme: „Operation Ungeziefer“, eine im Juni 1952 beginnende Zwangsaussiedlung von DDR-Bürgern, die nahe der innerdeutschen Grenze lebten. „Wer nicht als absolut zuverlässig und systemtreu galt, mußte seinen Wohnort verlassen“, schildert Wolfram die damalige Situation. Die Anwesen der Bürger werden teilweise dem Erdboden gleichgemacht: etwa die „Obere Mühle“, ein Betrieb, der von seinen Besitzern gerade erst renoviert wurde. Den Abtransport aus ihrer Heimat vor Augen, fliehen die Mühlenbewohner in letzter Minute mit einem Sprung durch das Heubodenfenster in den Westen.

Auch ein Kraftfahrer nutzt die Gelegenheit zur Flucht. Mit einer Leiter steigt er 1973 einfach über die Betonmauer. „Das war nur möglich, weil er als Grenzarbeiter eine Aufenthaltserlaubnis hatte“, erklärt Wolfram. Die Dorflehrerin von Mödlareuth machte sich übrigens bereits in den fünfziger Jahren aus dem Staub. Bei den Goethe-Gymnasiasten sorgt diese geschichtliche Fußnote für Heiterkeit. Die Schüler nehmen es mit Humor: „Cool, keine Schule mehr“, flüstern sich einige von ihnen mit einem verschmitzten Lächeln zu.

Weitere informationen zum Deutsch-Deutschen Museum in Mödlareuth im Internet unter www.moedlareuth.de

Fotos: Daniel Wolfram mit einer Mine: Manche sind verblutet, Überreste der Grenze: Die Restriktionen wurden immer schärfer, Erinnerungsbild an die Mauer: Am Anfang stand ein Bretterzaun

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