© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/09 02. Oktober 2009

„Als wäre das alles ein Wunder gewesen“
Machtvolle Blitzschläge aus einer anderen Welt: Die heilsgeschichtliche Deutung der 1989er Revolution
Fabian Schmidt-Ahmad

Geschichtswissenschaft, namentlich wie sie gegenwärtig betrieben wird, ist oft nur die Herleitung des Vergangenen aus dem Vorvergangenen: ein gleichmäßiger, sich ins Ungewisse dahinwälzender Strom, der – einer Sinndeutung solchermaßen enthoben – nur das bereits Bekannte zu erklären hilft. Doch es gibt Momente in der Geschichte, da befriedigt der autistische Blick auf endlose Folgen von Kausalketten nicht mehr. Ereignisse brechen hervor – unerwartet, plötzlich und noch nie erschaut –, die in unser Dasein wie machtvolle Blitzschläge aus einer anderen Welt eingreifen. Dinge geschehen dann in Augenblicken, die sonst nicht in einem Menschenleben zu sehen sind. Die deutsche Revolution von 1989 war ein solcher Moment.

Vielleicht war es diese Einzigartigkeit, ein Ereignis ohne Vorbild zu sein, welche den deutschen Herbst vor zwanzig Jahren heute in eine Aura des Unwirklichen, Unnahbaren kleidet. Die übliche historisch-kritische Methode muß hier nur zu unzureichenden Ergebnissen kommen. Provozierend und zugleich lohnend scheint es daher, auch andere, höhere Einflüsse zu berücksichtigen  als die bloßen menschlichen Interessen und Leidenschaften. Unter dem Titel „Geist und Revolution. Geschichtstheologische Fragen an die gesellschaftlichen Umbrüche von 1789 und 1989“ ging in Erfurt eine Tagung auf Spurensuche; im Augustinerkloster, wo bereits Luther seine Weihe erhielt. Organisiert wurde die Veranstaltung von der Evangelischen St. Georgs-Bruderschaft.

Der Schriftsteller Ulrich Schacht, Großkomtur der Bruderschaft, stellte in seiner Einführung die deutsche Revolution mit dem anderen historischen Großereignis, der Französischen Revolution zweihundert Jahre zuvor, in kontradiktorische Beziehung. Jene deutete er als einen ersten Versuch, einen „neuen Menschen“ als herstellbares Produkt menschlicher Vernunft zu begreifen. Die russische Revolution von 1917 und ihre Folgen waren so gesehen nur monströse Fortsetzungen. Die Demonstrationen von 1989 dagegen sammelten sich unter dem Kreuz Christi. Und ihr Sieg war eine Verjüngung, nicht Vernichtung von Kultur – etwas, was die westdeutsche Elite als Anachronismus betrachtete. „In den Augen dieses intellektuellen Westens ist die friedliche Revolution im Kern – man sagt es nicht so, aber de facto meint man es so – eine Konterrevolution.“

Kairos nannten die Griechen jenen magischen Moment, wenn in der Geschichte alles möglich zu sein scheint: das Dreieck, welches für einen kurzen Augenblick entsteht, wenn der Webstuhl die Kettfäden trennt und dem Schußfaden Raum gibt. Auch in der christlichen Theologie, nicht erst seit Luther, ein schillernder, eschatologischer Begriff, den der Religionsphilosoph Harald Seubert für seine Betrachtung der Revolution von 1989 verwendete. Nicht nur in ihrer Wirkung, auch in ihrer Art unterschied sie sich von anderen. Wo jene Massen mobilisieren, die in kollektiver Ekstase vernichten, so ist die Gewaltlosigkeit gerade ihr „Siegel“: „Das Votum ‘Keine Gewalt!’ war darum so überzeugend, weil es als Selbstverpflichtung und als Appell an die Staatsmacht gleichermaßen gerichtet war.“

Eine sinndeutende Betrachtungsweise, die auf Widerspruch stieß. Der Philosoph Klaus Michael Kodalle warnte vor der ideologischen Überfrachtung von Geschichte. Anhand des protestantischen Theologen Karl Heim (1874–1958) zeigte Kodalle auf, wie schnell man von einer Deutung des „messianischen“ hin zu der des „dämonischen“ Adolf Hitlers gelangen kann. Dagegen könne man auch ohne transzendenten Bezug die DDR klar als Unrechtsstaat identifizieren. Und der evangelisch-lutherische Altbischof Hans Christian Knuth stellte für die Heilsgeschichte fest: „Faßt man den Begriff theologisch im strengen, reformatorischen Sinne des Wortes, dann lassen sich weder theologische Fragen an die Geschichte stellen noch theologische Antworten aus ihr ableiten.“

Also doch nur eine Kettenfolge von Reaktionen, deren möglicher Sinn menschlicher Erkenntnis prinzipiell verborgen bleibt? Die Präsidentin des Thüringer Landtags, Dagmar Schimpanski (CDU), vergegenwärtigte noch einmal die Situation vor zwanzig Jahren. Zwar trugen zum einen rein äußere Faktoren zum Zusammenbruch der sozialistischen Diktatur bei. Doch schlußendlich waren es die Menschen, die aus ihrem individuellen Handeln heraus zur geschichtsmächtigen Kraft wurden; in jenen dramatischen Tagen, in denen die sichere Katastrophe näher schien als die Rettung. „Ein solches Ende des Kommunismus hat niemand vorausgesehen, nicht seine Anhänger, und nicht seine Gegner“, erinnert sich der Schriftsteller Sebastian Kleinschmidt, Chefredakteur der Zeitschrift Sinn und Form. „Als ob jemand die Hand darüber gehalten hätte, als wäre das alles ein Wunder gewesen. Aber so ist es.“

Gewiß kann man eine Vielzahl von theologischen Argumenten anführen, wieso die Revolution von 1989 besser nicht heilsgeschichtlich gedeutet werden sollte. Auch kann man sicher eine Vielzahl von Rädchen finden, die diese auch nur als ein großes Rad im Getriebe der Geschichte erscheinen lassen. Aber dennoch – wer das Glück hatte, an diesem Geschehen teilzuhaben, der wird anders reden. Die gemessene, feierliche Stimmung jener Demonstrationen, ihre innere Ruhe und Kraft: Hier gab es keine wilden, aus dem Unterleib heraufschießenden Leidenschaften, kein Herabsinken zum Herdentier Mensch, kein Auslöschen des Principium individuationis. Ganz im Gegenteil: Nie hat man klarer gedacht, nie hat man klarer gefühlt als in diesen Prozessionen.

Es war nicht nur ihre äußere Erscheinung, welche den Demonstrationszügen etwas Heiliges und Heilendes verlieh. Es war ihre innere Stimmung, die unmittelbare Anwesenheit einer Macht, welche die Menschen trug und ihre Herzen öffnete. Eine Hohe Zeit war es, als die Grenzen des Transzendenten verwischt wurden und den Menschen für eine Weile ein neuer Sinn geliehen wurde. Höhepunkt der Tagung war die gemeinsame Feier des Abendmahls. Wie vor zwanzig Jahren legte auch diesmal Pfarrer Hans-Joachim Schwarz seiner Predigt den Psalm 126 zugrunde: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein. Da wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen getan.“ Ja, so war es.

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