© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/09 02. Oktober 2009

Von wegen „kommode Diktatur“
Susanne Schädlich über das unmenschliche Spitzelsystem in der DDR und seine von Verharmlosung bis zu einer Schlußstrichmentalität geprägte Aufarbeitung
Daniel Körtel

Blut ist dicker als Wasser“ – hinter dieser Volksweisheit steht die voraussetzungslose Erwartung, daß familiäre Bindungen im höchsten Maß von Vertrauen und Selbstlosigkeit gekennzeichnet sind. Zu den perfidesten Methoden des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) zur Zersetzung sogenannter Staatsfeinde dürfte die diskrete Ausnutzung dieser arglosen Haltung gewesen sein, da im Familienkreis mit Verrat am wenigsten gerechnet wird.

Prominentestes Opfer dürfte die DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld sein – nach der Wende stellte sich heraus, daß ihr engster Stasi-Spitzel ausgerechnet ihr Ehemann Knut Wollenberger war. Weniger bekannt ist der Fall des systemkritischen Schriftstellers Hans Joachim Schädlich, dessen Familie über zehn Jahre von seinem Bruder Karlheinz Schädlich (IM „Schäfer“), einem Historiker mit einer Vorliebe für Tweedjacken und distinguierte Verhaltensformen, im Auftrag des MfS ausgespäht und zersetzt wurde. „Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und wir“ ist die von seiner Tochter Susanne dokumentierte Chronik über diesen vom MfS angelegten „Operativen Vorgang ‘Schädling’“.

Hans Joachim Schädlich war Mitglied eines von Günter Grass initiierten privaten Gesprächskreises mittel- und westdeutscher Schriftsteller. Nachdem er 1976 die Protestresolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterzeichnete, folgten staatlicherseits Schikanen und berufliche Behinderungen, so daß er im Folgejahr mit seiner Frau Krista Maria und den Töchtern Anna und der damals 12 Jahre alten Susanne zur Ausreise in die Bundesrepublik gezwungen war.

Doch auch hier fand die Familie keine Sicherheit vor dem langen Arm der DDR-Sicherheitsorgane, die die Betreuung mitteldeutscher Schriftsteller durch die nun als Lektorin tätige Krista Maria Schädlich als Fortsetzung „staatsfeindlicher Tätigkeiten“ ansahen. Die sich psychosomatisch auswachsenden Anpassungsstörungen des Vaters ausnutzend, versuchte der in der DDR zurückgebliebene Onkel ihn im Auftrag der Stasi zur Rückkehr zu bewegen, was dem DDR-Regime einen bedeutenden Prestigegewinn eingebracht hätte. Über Jahre hinweg wirkte der Onkel als der heimliche Spaltpilz, der die familiäre Einheit der Schädlichs zerrüttete.

Was ihm bei ihrem Vater letztlich mißlang, versuchte der Onkel anschließend bei Susanne, die zu ihrem Onkel ein väterliches Verhältnis hatte. Ihre kindliche Naivität und ihr Vertrauen mißbrauchend, lockte er sie in die vom MfS gestellte Falle. Der Köder war eine von Susanne sehnlichst angestrebte Schneiderlehre, für die der Onkel eine angebliche Stelle in Ost-Berlin in Aussicht stellte. Ohne es zu ahnen, verhandelte Susanne mit dem MfS, welches im Gegenzug die Annahme der DDR-Staatsbürgerschaft erwartete. Ein zu hoher Preis für Susanne, die immer noch nicht die manipulative Rolle ihres Onkels durchschaute. Der Schock für die Familie saß tief, als Hans Joachim Schädlich 1992 aus den Stasi-Akten erfuhr, welch übles Spiel sein Bruder mit der Familie trieb.

Karlheinz Schädlich pflegte zum MfS ein innigeres Verhältnis als zur eigenen Familie, die er freiwillig und aus Überzeugung belastete. Damit konfrontiert, zeigte sich Karlheinz Schädlich durchaus seiner Schuld bewußt, doch ging seine Aufarbeitung nie über Selbstmitleid hinaus. Ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, setzte Karlheinz Schädlich 2007 seinem Leben ein Ende. Den merkwürdig wohlwollenden Nachrufen in der Presse hält Susanne entgegen: „Der Onkel war kein ‘Gentleman IM’, kein Opfer des politischen Systems, er war überhaupt kein Opfer. Er war ein Täter, ein politisch überzeugter Täter.“ Wie sehr inzwischen die Täter/Opfer-Beziehung im öffentlichen Bewußtsein aus dem Lot geraten ist, zeigten die Anfeindungen, die der Familie widerfuhren, nachdem sie der Beerdigung fernblieb.

Susanne Schädlichs Erinnerungsbuch ist ein beklemmendes Plädoyer gegen die Schlußstrichmentalität und die weitverbreitete Verharmlosung der DDR als „kommode Diktatur“. Mit der Familiengeschichte der Schädlichs erhält der Leser aus der bislang zu selten vernommenen Opferperspektive einen exemplarischen Blick in die Schicksale, die hinter den Stasi-Akten stehen. Doch darüber hinaus gibt die Autorin auch Einsicht in ihre innere Entwicklung zur Identitätsfindung infolge der Umbrüche, die sie seit der Übersiedlung zu bewältigen hatte. Auf dem am 4. Oktober stattfindenden Festakt zur Verleihung des Kasseler Bürgerpreises „Das Glas der Vernunft“, der in diesem Jahr an den früheren Stasi-Akten-Beauftragten Joachim Gauck geht, wird Susanne Schädlich aus ihrem Buch lesen.

Susanne Schädlich: Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und wir. Verlag Droemer Knaur, München 2009, gebunden, 240 Seiten, 16,95 Euro

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