© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/09 02. Oktober 2009

Der Lange Marsch zum Neuen China
Vor sechzig Jahren verkündete Mao Zedong in Peking die Gründung der Volksrepublik / Erster Teil
Peter Kuntze

Ende letzten Jahres soll der Präsident des chinesischen Industrieverbandes auf einem Kongreß in Peking westlichen Unternehmern folgenden Witz erzählt haben: Vor sechzig Jahren, mit der Bauernrevolution von 1948/49, hätten die Chinesen den Kapitalismus abgeschafft, um China stark zu machen; vor dreißig Jahren, mit den Marktreformen von 1978, hätten sie ihn wieder eingeführt, um China stark zu machen; und heute, in der Finanzkrise 2008, werden sie den Kapitalismus in den USA retten, um China stark zu machen.

Diese scherzhafte Bemerkung zeigt gleichsam im Zeitraffer die Entwicklung, die die am 1. Oktober 1949 von Mao Zedong proklamierte Volksrepublik in den nunmehr sechzig Jahren ihres Bestehens tatsächlich genommen hat. Um diesen Prozeß zu verstehen, ist es erforderlich, zunächst das halbe Jahrhundert davor in Augenschein zu nehmen.

Chungguo – „Reich der Mitte“ – haben die Chinesen von alters her ihr Land genannt. Jahrtausende hindurch empfanden sie sich als Mittelpunkt der geographischen und kulturellen Welt, als Staat, der von unterlegenen „Barbaren“ umgeben war. Doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte der Niedergang begonnen – äußerlich gekennzeichnet durch politische Mißwirtschaft und Volksaufstände, beschleunigt durch das Eindringen europäischer Mächte sowie Japans und der USA.

Im Jahr 1900 war der Tiefpunkt erreicht: Als die kaiserliche Regierung den Aufstand der „Boxer“ unterstützte – einer Geheimgesellschaft, deren Mitglieder das Gesandtschaftsviertel in Peking belagerten –, reagierten die Kolonialmächte mit einer gemeinsamen Strafexpedition. Aufgrund der „Boxer-Protokolle“ mußte China gewaltige Reparationen zahlen und wurde zur Duldung weiterer ausländischer Einflußnahme gezwungen. Das Reich der Mitte fiel auf einen halbkolonialen Status zurück. 1912 verlor die mandschurische Ching-Dynastie den letzten Rückhalt im Volk und mußte abdanken; der bürgerliche Revolutionär Sun Yat-sen proklamierte die „Republik China“.

Der Zerfallsprozeß war damit aber keineswegs beendet. Um weitere innere Konflikte zu vermeiden, trat Sun Yat-sen das Amt des Staatspräsidenten an den einflußreichen Marschall Yüan Schi-kai ab. Dieser unterdrückte die parlamentarische Opposition, schwang sich zum Diktator auf und versuchte, eine neue Dynastie zu errichten. Nach seinem Tod (1916) zerfiel die zentrale Staatsmacht vollends. In nahezu pausenlosen Bürgerkriegen verwüsteten Militärmachthaber („warlords“) das Land. Erst 1928 gelang es Tschiang Kai-schek, fast ganz China seiner Regierung zu unterstellen.

Der Generalissimus hatte 1925 nach dem Tod Sun Yat-sens die Führung der Kuomintang (KMT), der Nationalen Volkspartei, übernommen. Zuvor hatte ihn Sun zum Studium des Aufbaus von Partei und Armee nach Moskau geschickt, denn in der jungen Sowjet-union sahen viele der nationalchinesischen Revolutionäre gleichgesinnte Verbündete. Umgekehrt setzten auch die Nachfolger Lenins ihre Hoffnungen auf Sun und seine Gefolgsleute. Schließlich mußte nach sowjet-marxistischer Überzeugung erst eine bürgerlich-kapitalistische Zwischenphase das noch feudale China für den Kommunismus reif machen. Moskau und die Komintern unterstützten daher nur halbherzig die KP Chinas, zu deren zwölf Gründungsmitgliedern 1921 auch Mao Zedong gehörte.

Als der linke Flügel der KMT eine Koalition mit den Kommunisten schloß, die in Schanghai eine bewaffnete Kommune gebildet hatten und Tschiang Kai-schek seiner politischen Ämter enthob, schlug der Generalissimus zurück: 1927 löste er die Kommune mit Waffengewalt auf, unterdrückte die Arbeiterbewegung und schickte die sowjetischen Berater nach Hause. Das „Blutbad von Schanghai“ wurde zum Wendepunkt der Revolution. Zwar erhielt China mit der Nationalregierung in Nanking wieder ein einheitliches politisches Gefüge, doch die KMT trug den Keim des Untergangs bereits in sich: Korruption breitete sich aus; nicht mehr grundlegende Reformen, sondern die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung war Tschiangs oberstes Ziel.

Der Generalissimus, der eine Militärdiktatur errichtet hatte, mußte fortan an zwei Fronten kämpfen: gegen die Japaner und gegen die Kommunisten. 1932 hatten japanische Truppen die Mandschurei erobert; 1937 kam es an der Marco-Polo-Brücke in Peking zu einem schweren Zusammenstoß, der einen achtjährigen Krieg zwischen beiden Staaten auslöste und zum Auftakt des Zweiten Weltkriegs wurde. Chinas KP spielte vorerst keine Rolle. Nach dem Bruch mit der Kuomintang hatte sie sich nur in einigen Großstädten als Untergrundorganisation halten können und verlor zusehends an Einfluß, da die unter der Kontrolle der Komintern stehende Parteiführung wenig Geschick bei der Gewinnung der ohnehin zahlenmäßig unbedeutenden Industriearbeiter bewies. Infolge ihrer Gebundenheit an das Dogma vom Primat des Proletariats bei der Revolution erkannte sie nicht die grundlegende Bedeutung der Agrarfrage.

Lediglich Mao, der entgegen dem Willen des moskautreuen Flügels der KP Bäuernbünde organisierte, war zu der Überzeugung gelangt, die Revolution könne nur Erfolg haben, wenn sie sich auf die von Warlords, Beamten und Grundbesitzern unterdrückten und ausgebeuteten Bauern stütze, die fast neunzig Prozent der Bevölkerung ausmachten. Ihm gelang es, im Tschingkang-Gebirge in der südlichen Provinz Kiangsi einen kleinen Sowjetstaat zu errichten, in dem 1932 auch die Leitung der KP Zuflucht suchte. Stalin und die Komintern stimmten widerwillig zu.

Bis 1934 konnte sich Maos Bauerntruppe gegen die „Ausrottungs  und Vernichtungsfeldzüge“ der KMT-Armee behaupten; dann durchbrachen die Kommunisten die Umzingelung und zogen in dem legendären, über 12.500 Kilometer führenden „Langen Marsch“ nach Nordchina in die Provinz Schensi, wo Mao 1936 sein neues Machtzentrum aufbaute. Von 100.000 Mann hatten nur 10.000 die Strapazen überlebt, doch der Propagandaerfolg war gewaltig und ein Meilenstein auf dem Weg zum späteren Sieg der „Volksbefreiungsarmee“.

Nur der Krieg gegen Japan vereinte noch einmal Nationalisten und Kommunisten. 1947 indes wurde der Bürgerkrieg mit aller Härte fortgesetzt und endete 1949 mit der Vertreibung der Kuomintang-Anhänger auf die Insel Taiwan. Während Tschiang Kai-schek, politisch und militärisch von den USA unterstützt, von der Rückeroberung des Festlandes träumte, verkündete Mao in Peking die Gründung der Volksrepublik China. Sein historisches Verdienst wird es bleiben, China von Fremdherrschaft und Feudalismus befreit und es aus dem Mittelalter ins Atomzeitalter geführt zu haben.

Nach der Rückgabe der britischen Kolonie Hongkong 1997 und der portugiesischen Besitzung Macao 1999 an Peking zeichnet sich seit 2008 eine Annäherung zwischen Taiwan und der Volksrepublik ab, so daß auch das Bürgerkriegskapitel in absehbarer Zeit zu Ende gehen könnte.

Fortsetzung in der nächsten JF

Peter Kuntze, Autor mehrerer Bücher über China, war von 1968 bis 1997 Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“.

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