© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/09 09. Oktober 2009

Von der Volkskommune zum Staatskapitalismus
Sechzig Jahre nach ihrem Sieg leisten Chinas Kommunisten Mao Zedong nur noch Lippenbekenntnisse / Zweiter Teil
Peter Kuntze

Am 1. Oktober 1949 verkündete Mao Zedong vom Söller des Pekinger Tienanmen, des Tors zum Himmlischen Frieden, die Gründung der Volksrepublik mit den Worten: „China, ein Viertel der Menschheit, hat sich erhoben. Unsere Nation wird nie wieder eine gedemütigte sein!“

Die Probleme, vor die sich die Revolutionäre gestellt sahen, schienen jedoch fast unlösbar: Das Land war am Ende, fünfzig Jahre Krieg und Bürgerkrieg hatten es verheert. Achtzig Prozent der Bevölkerung waren Analphabeten; die Inflation hatte astronomische Höhen erreicht. Felder waren verwüstet, Brücken und Dämme zerstört; die wenigen Industriebetriebe lagen in Schutt und Asche. Im Westen gab man den Männern um Mao keine Chance. Drei Monate, höchstens ein Jahr, so meinten Politiker und Journalisten, werde es dauern, bis die Volksrepublik zusammenbreche.

Doch trotz wirtschaftlicher Isolierung und politisch-militärischer Eindämmung durch die USA und ihre Verbündeten stieg China wie ein Phönix empor, und dies – abgesehen von kurzfristiger sowjetischer Hilfe – gestützt allein auf das Vertrauen in die eigene Kraft. Maos Gleichung „Revolution plus Produktion gleich Lösung der Ernährungsfrage“ ging bereits 1952 auf. Nach nur drei Jahren hatte die Produktion den Vorkriegsstand von 1937 wieder erreicht. Ausgangspunkt war die Bodenreform. 1950 waren die Großgrundbesitzer enteignet und 47 Millionen Hektar Land an die Bauern verteilt worden.

1966 entfesselte Mao Zedong die „Kulturrevolution“

Bis 1957 ging der ökonomische Aufbau zügig voran. Das fehlende Kapital wurde ersetzt durch den Fleiß und die Opferbereitschaft der Millionen Bauern, die im Westen oftmals als „blaue Ameisen“ verspottet wurden. Doch Mao war das Entwicklungstempo noch zu langsam. Mit einem „Großen Sprung nach vorn“ wollte er im Wettstreit mit den sowjetischen Rivalen dem Kommunismus näherkommen und dekretierte 1958 die Gründung von 26.000 „Volkskommunen“. Sie sollten die 740.000 Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs) ersetzen, die durch den Zusammenschluß mehrerer Dörfer entstanden waren und je hundert bis zweihundert Familien umfaßten.

Mao zufolge waren diese Einheiten zu klein, um Großprojekte wie den Bau von Staudämmen und Bewässerungskanälen in Angriff zu nehmen. Da die marxistische Utopie im „Absterben des Staates“ gipfelt, würden die Kommunen künftig in ihrem jeweiligen Gebiet für Landwirtschaft, Industrie, Handel, Verteidigung, Schulen, Kliniken etc. zuständig sein und sich selbst verwalten. In der Endstufe, so der Plan, sollte ganz China eines Tages eine einzige klassenlose Volkskommune werden.

Dieses Sozial- und Menschenexperiment endete jedoch in einer Katastrophe. Aufgrund der 1958 erzielten Rekordernte war vielerorts die Einführung einer kostenlosen Verpflegung beschlossen worden – im Glauben, der Hunger sei nun endgültig besiegt. Hinzu kamen Übertreibungen bei der Schätzung der Ernteerträge, weil es an Statistiken mangelte.

Viele Arbeitskräfte wurden aus der Landwirtschaft abgezogen; sie gingen in die Städte oder beteiligten sich an einer gigantischen Stahlschmelz-Kampagne, die auf den Dörfern die industrielle Grundlage schaffen sollte – mit fatalen Folgen: Der Hinterhof-Stahl war völlig minderwertig, und die Aussaaten wurden vernachlässigt. Als es zusätzlich zu Naturkatastrophen und Mißernten kam, war die Hungersnot so groß, daß Peking Getreide importieren mußte.

In der Partei formierte sich der Widerstand gegen Mao. Er mußte das Amt des Staatspräsidenten an Liu Schao-tschi abtreten, blieb aber KP Chef. Da sich gezeigt hatte, daß die Volkskommunen zu groß waren, um sinnvoll verwaltet zu werden, wurden sie verkleinert. Gleichzeitig machte die Partei klar, daß die Häuser der Bauern und ihr privater Besitzstand wie Haushaltsgeräte, Möbel und Bankkonten immer ihr persönliches Eigentum bleiben sollten; dies ist bis heute der Fall.

Bereits 1956 hatte Mao erfahren müssen, daß seine Politik auf Widerstand stieß. Um die Stimmung im Land zu erkunden, hatte er dazu aufgerufen, freie Kritik am bisherigen Aufbauwerk zu üben. Als es daraufhin besonders unter Intellektuellen zu lautstarken Rufen nach Beendigung des Machtmonopols der KP kam, ließ Mao die Kampagne „Laßt hundert Blumen blühen! Laßt hundert Schulen miteinander wetteifern“ abbrechen; es begann eine drastische Säuberungsaktion gegen die „Rechtsabweichler“.

Bis 1965 war Mao Zedong politisch weitgehend kaltgestellt. Die Gruppe um Liu Schao-tschi dominierte. China erholte sich in dieser Zeit zwar von den wirtschaftlichen Rückschlägen, aber da Liu nach sowjetischem Vorbild das Schwergewicht auf die industrielle Entwicklung in den Städten legte, wurde das Land vernachlässigt; die Schere zwischen den Einkommen der Arbeiter und Bauern öffnete sich. In den Betrieben hatten Spezialisten und Manager fast uneingeschränkte Machtpositionen erobert. Mao zufolge herrschte in China nun wie in der UdSSR eine „neue Klasse“ und ritt „wie ein Mandarin auf dem Rücken des Volkes“.

Im Jahr 1966 meldete sich der damals 72jährige mit einem spektakulären Bad im Fluß Jangtsekiang zurück und entfesselte die Kulturrevolution. Aus Arbeitern und Bauern sollten „rote Experten“ werden, während die in der Klasseneinstufung als „stinkende Nummer neun“ denunzierten Intellektuellen erniedrigt und drangsaliert wurden. Die jugendlichen Roten Garden rief Mao zum Kampf gegen die „vier Alten“ auf: gegen die alten Ideen, die alte Kultur sowie die alten Sitten und Gebräuche.

Auch diesem monströsen Projekt zur Erschaffung eines „Neuen Menschen“ fielen Zehntausende zum Opfer. Erst als Deng Xiaoping zwei Jahre nach Maos Tod und der Verhaftung der ultralinken „Viererbande“ (1976), das ideologiefreie Motto ausgab: „Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist – Hauptsache, sie fängt Mäuse“, blühte das gesellschaftliche Leben wieder auf. Deng leitete 1978 die wirtschaftliche Öffnungspolitik ein, löste die Volkskommunen auf und nahm damit endgültig Abschied von Maos utopischen Träumereien, die Schätzungen zufolge mindestens fünfzig Millionen Todesopfer gefordert hatten.

Als sich 1989, ausgehend von Pekinger Studenten, Widerstand gegen die zunehmende Korruption und gegen die geistige Gängelung durch die KP formierte, ließ Deng die Protestbewegung blutig niederschlagen. Seine Nachfolger propagieren heute zwar einen „Sozialismus chinesischer Prägung“, in Wahrheit ist er aber nichts anderes als ein autoritärer, doch überaus erfolgreicher Staatskapitalismus. Statt auf den gescheiterten Marxismus stützen sich die Herrschenden in Peking auf die Werte eines wiederbelebten Konfuzianismus und predigen angesichts zunehmender sozialer und ökologischer Probleme gesellschaftliche „Harmonie“ sowie „Maß und Mittel‘.

Vielleicht hatten die sowjetischen Kommunisten recht gehabt. Schon zu Stalins Zeiten machte das Bonmot die Runde, die chinesischen Genossen seien wie Radieschen: außen rot und innen weiß. Gut konfuzianisch ließe sich rückblickend argumentieren, um die durch ausländische Mächte und einheimische Feudalherren zerstörte Ordnung des Himmels wiederherzustellen, bedurfte es solcher Revolutionäre wie Mao. Sie haben – gleichsam durch die List der historischen Vernunft – den Marxismus als Instrument benutzt, das China in einem gewaltigen Kraftakt zu altem Glanz und alter Größe verholfen hat. Hegelianisch gesprochen, ritt der konfuzianische Weltgeist von 1934 an der Spitze von Maos Bauernarmee, die sich auf den Langen Marsch von 10.000 Kilometern begab, um das Neue China zu schaffen, das jetzt sogar den USA politisch und wirtschaftlich Paroli bietet.

Trotz zahlreicher Menschenrechtsverletzungen ist es eine unbestreitbare Tatsache, daß die Chinesen noch nie so frei waren und es ihnen mehrheitlich noch nie so gut gegangen ist wie heute. Im Gegensatz zum Westen, der seinen Maßstab an China anlegt, messen die meisten Chinesen ihr Land daher gerechterweise an der eigenen Vergangenheit. Daß die Volksrepublik mittlerweile die drittstärkste Wirtschaftsmacht der Welt und der größte Gläubiger der USA ist, hat ihrem Nationalstolz nach einem Jahrhundert der Armut und Demütigung durch fremde Mächte verständlichen Auftrieb gegeben.

 

Peter Kuntze, Autor mehrerer Bücher über China, war von 1968 bis 1997 Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“.

Fotos: Der sowjetische Staatschef Nikita Chruschtschow (r.) besucht Mao, Peking 1958: „Wie ein Mandarin auf dem Rücken des Volkes“, Die Innenstadt von Shanghai wächst aktuell in den Himmel: Marxismus diente nur als Instrument, um China zu altem Glanz zu verhelfen

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