© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Tod dem Mondschein
Die Geburt des Zentauren: In Berlin würdigt eine große Ausstellung die italienischen Futuristen
Wolfgang Saur

Als Kunstform der neuen Zeit würdigte 1934 eine Berliner Ausstellung das Werk der italienischen Futuristen. Im Zeichen der Achse Berlin–Rom suggerierte man den Machthabern eine hochmoderne Ästhetik, die zugleich den authentisch faschistischen Stil verhieß.

So ergänzte denn die offizielle Eröffnung ein Empfang der Union Nationaler Schriftsteller. Dort begrüßte Gottfried Benn den Ex-Anarchisten Tommaso Marinetti, nun immerhin Mitglied der königlichen Akademie und Präsident des italienischen Schriftstellerverbandes, mit einer zackigen Ansprache und rief die Intellektuellen zur Mitwirkung auf an jenem „großartig kalten Stil (…), in den Europa hineinwächst“.

Marinetti, dessen Umsturz-Manifest von 1909 eben 25 Jahre zurücklag, feierte er mit den Worten: „Sie und die von Ihnen geschaffene Kunstrichtung war es, die die stupide Psychologie des Naturalismus hinter sich warf, das faul und zäh gewordene Massiv des bürgerlichen Romans durchstieß und mit der funkelnden und rapiden Strophik Ihrer Hymnen auf das Grundgesetz der Kunst zurückging: Schöpfung und Stil. (…) Mitten in einem Zeitalter stumpfgewordener, feiger und überladener Instinkte verlangten (…) Sie eine Kunst, die dem Feuer der Schlachten und dem Angriff der Helden“ entsprach.

Marinettis Stichworte blitzten auf: Liebe zur Gefahr, Energie und Verwegenheit, Mut, Rebellion, Angriff und Todessprung, Krieg als Hygiene der Welt. 1934 seien, so Benn, Form, Zucht und Stil „die Grundlage des imperativen Weltbilds, das ich kommen sehe“. Der futuristische Gedankenkreis habe die Arditi, Schwarzhemd, Kampfruf und Schlachtenlied hervorgebracht. „Die ganze Zukunft“ sei nun dies: „der Staat und die Kunst –, die Geburt des Zentauren hatten Sie in Ihrem Manifest verkündet: dies ist sie“.

Nun, daß diese Eloge das letzte Wort nicht blieb, dokumentierte noch im gleichen Jahr Hitler selbst, der auf dem Parteitag mit Kubisten, Dadaisten und Futuristen abrechnete und sie zur „entarteten“ Kunst erklärte.

Ganz anders die Auffassung des Jahres 1912, als die Italiener erstmals in Berlin präsentiert wurden. 35 Werke zeigte der Propagandist und Organisator des Expressionismus, Herwarth Walden, in seiner Sturm-Galerie dem erstaunten, dann zahlreichen Publikum (1.000 Besucher am Tag!). Hier bewegten sich die Futuristen im avantgardistischen Kontext zwischen Kubismus, Dadaismus, Konstruktivismus und Abstraktion.

Mit deren Vertretern hat die italienische Gruppe viel gemein. So vollzieht sie, gleich den deutschen Expressionisten, eine Kehre vom sensualistischen Eindruck zum Ausdruck, verwirft Perspektive, Abbildlichkeit, Naturalismus, zersplittert die Form. Doch während der deutsche Expressionismus verzweifelt moderne Entfremdung chiffriert und visionär den „neuen Menschen“ verheißt, der den Pessimismus religiös überwinden soll, adaptiert Marinetti den nihilistischen Standpunkt des späten Nietzsche. Die Devise lautet: Was fällt, das soll man auch noch treten! Aktion statt Erleiden, Umwertung statt Dekadenz, Konstruktion nach Zerstörung, Zukunft statt Herkunft – nieder mit den traditionalen Werten! Weg mit dem Vergangenheitskult der Museen, Wissenschaft und bürgerlichen Epigonen, die aus Italien einen „Trödelladen“ machten! Ihn wollen die Futuristen lustvoll in die Luft sprengen. Tod der Romantik, dem Tango, den Spaghetti, den verkalkten Professoren! Auslöschen wird sie der aggressive Fortschrittsmythos: Maschine, Kommunikation, Verkehr, Komplexität. Gesteigert, wird er zum Leuchtfeuer einer technokratischen Utopie. Seine Flamme schmilzt die Identitäten um. Der Futurist wird zum Bilderstürmer.

So Thesen und Mentalität Marinettis im anarchistischen Aufruf von 1909, dem zahlreiche folgen sollten, bis hin zur „futuristischen Rekonstruktion des Universums“ (1915). Dem klotzigen Umwerter schlossen sich alsbald junge Maler an, Giacomo Balla, Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Luigi Russolo, Gino Severini. Gemeinsam wandten sie nun die neuen Prinzipien – Dynamik, Simultanität, Durchdringung der Ebenen und Revolutionierung der Syntax – auf unterschiedlichste Medien an: Malerei, Plastik, Fotografie, Literatur, Musik und Theater. Ein raffinierter Fall, der den kunstrevolutionären Ideen- und Beziehungsreichtum illustriert, ist der hermetische Magier und Religionsphilosoph Julius Evola, der sich der Gruppe anschloß; auch er bereichert jetzt die Berliner Schau mit seinem Werk.

Diese schließt das Futurismus-Jahr 2009 mit einer universellen Retrospektive ab, die im Gegensatz zu London und Paris (JF 52/08) die ganze Entfaltungsbreite des Stils zeigt, den zeitlichen Verlauf in seiner Gestaltenfülle. Möglich macht das der museale Leihgeber aus Rovereto, der über 4.000 Hauptwerke hält. So werden breite Aufarbeitung und suggestive Darstellung möglich; sie erlauben uns eine vielschichtige Orientierung. Breit ausgestreut erscheint die großartige Malerei in all ihren Hauptvertretern; darunter zahlreiche Bilder, die schon Walden 1912 zeigte. Die dichte Abfolge aller Gattungen und Formen konturiert gleichzeitig die vielfältige Vernetzung, die die futuristische Bewegung zu einem faszinierenden Gesamtkunstwerk macht. Dies zumal in den Marionettenchören und der Bühnenkunst, stehen sie doch für den performativen Aspekt futuristischer Kunst und deren szenographische Experimente.

Im Gropiusbau beeindruckt das riesige Figurenensemble zu Strawinskys „Le Chant du Rossignol“ (1917). Indem die Futuristen das alte, naturalistisch-psychologische Theater samt narrativem Gerüst verwerfen und vom Agitprop ausgehen, explodiert das szenische Geschehen. Die Bühne wird ein „voller Leben pulsierendes kinetisches Universum, durchströmt von einem vibrierenden Energiefluß“ (Lista).

So betrachtet der Futurist das Theater einerseits „als kollektives Ritual, das die neue gesellschaftliche und kulturelle Dynamik der Gegenwart“ widerspiegelt, „andererseits als den Ort einer vitalistischen Schöpfung“. Spiel und Tanz erweisen sich so als symbolischer Reflex einer Dialektik futuristischer Phantasie, die Zerstörung und Eroberung, Zerschlagung und Neubau, Analyse und Konstruktion im Zeichen Prometheus’ donnernd verherrlichen will.

Die Ausstellung „Sprachen des Futurismus“ ist bis zum 11. Januar 2010 im Berliner Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, täglich außer dienstags von 10 bis 20 Uhr zu sehen. Internet: www.gropiusbau.de

Der Katalog mit 312 Seiten und 260 Abbildungen kostet 32 Euro.

Foto: Fortunato Depero, Magische Flora für das Bühnenbild von „Le Chant du Rossignol“ (1917): Das szenische Geschehen explodiert

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen