© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/09 16. Oktober 2009

Frisch gepresst

Kempowski, Forte, Sebald. 1997 klagte Walter Kempowski wieder einmal über das hartnäckige Desinteresse an seinem Werk, bei Literaturkritikern und Germanisten gleichermaßen. Kümmerliche drei Dissertationen seien seinem Schaffen gewidmet worden, und die stammten von Auslands-Germanisten. Obwohl diese Ignoranz bis zum Tod des „deutschen Chronisten“ im Oktober 2007 zumindest im hiesigen Feuilleton ins Gegenteil umschlug, ist es kein Zufall, wenn die jüngste, ihm gewidmete Studie aus dem akademischen Milieu wieder von einem Auslands-Germanisten stammt: Jürgen Ritte, der die „Erinnerungspoetik“ Kempowskis mit gleichartigen Ansätzen bei Dieter Forte und W. G. Sebald vergleicht (Endspiele. Geschichte und Erinnerung bei Dieter Forte, Walter Kempowski und W. G. Sebald, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2009, gebunden, 253 Seiten, 29,90 Euro), ist Direktor des germanistischen Instituts an der Université de la Sorbonne Nouvelle in Paris. Leider ist der Proust-Spezialist Ritte aber inzwischen soweit akkulturiert, daß er die „typisch französische“ Kunst der pointillierenden Interpretation pflegt, die sich ganz im Gegensatz zum landläufigen Vorurteil weniger cartesianischer clarté als einer etwas maniriert wirkenden Hermetik verpflichtet fühlt. So deutet Ritte die „Traditionslinie“ von Kempowski über Walter Benjamin zurück zu Marcel Proust kaum an. Unterbelichtet bleibt auch die gar nicht zu überschätzende Beziehung zu Arno Schmidt, dem sprachmächtigsten unter den deutschen Autoren nach 1945. Ritte wäre gut beraten gewesen, auf Forte und den ohnehin völlig überschätzten Sebald zu verzichten, und sein längstes, das Kempowski-Kapitel monographisch auszubauen, um dann eine gründliche Analyse des hochkomplexen Prozesses literarischen Erinnerns zu liefern.

 

Bismarcks Nachfolger. Nachdem die Hauptdarsteller zwischen Reichsgründung und „Untergang“  alle ihre Biographen gefunden haben, beginnt sich der akademische Nachwuchs inzwischen verstärkt für die Männer der zweiten Garnitur zu interessieren. Exemplarisch mag dafür Bert Beckers 1.000-Seiten-Epos über Georg Michaelis stehen, den heute völlig vergessenen Neunzig-Tage-Reichskanzler des Krisenjahres 1917 (JF 13/08). Bei solcher Vorgabe war eigentlich zu befürchten, daß zu ebenso unbedeutenden Nachfolgern Bismarcks, die sich länger als Michaelis im Amt halten konnten, gleich mehrbändige Porträts ins Haus stünden. Etwa zum dritten Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst 1819–1901 (Ein deutscher Reichskanzler. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2009, 485 Seiten, eine Abbildung, 49,90 Euro), der von 1894 bis 1900 im Palais in der Wilhelmstraße residierte. Doch Volker Stalmann handelt die Reichskanzlerzeit des liberalen süddeutschen Fürsten auf 150 Seiten ab. Selbst dies erscheint noch verschwenderisch für einen Mann, der mit 75 Jahren das Ruder des Reichsschiffes übernahm, das 1894 nach dem Willen Wilhelms II. mit Volldampf Kurs auf die „Weltpolitik“ und einen „Platz an der Sonne“ nahm. Denn Stalmann verhehlt nicht, daß sein „Held“ im günstigsten Fall als „‚vornehm gesinnter Greis‘“ zu charakterisieren sei, wie Preußens Kultusminister Robert von Bosse dies ausdrückte. Als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident war er hingegen vom ersten Tag an schlichtweg überfordert, wurde von seinem kaiserlichen Dienstherrn geradezu „untergebuttert“. Seit 1897 überließ der dem „physischen Verfall“ ausgesetzte Hohenlohe die Außenpolitik des Reiches Wilhelm II. und dessen Günstling, dem AA-Chef Bernhard von Bülow. Allein die wenigen innenpolitischen Erfolge wie die Milderung des Militärstrafrechts scheinen für Stalmann das Urteil zu tragen, im Wirken Hohenlohes hätte „der deutsche Liberalismus“ noch einmal seine „milden Schatten“ geworfen – „deren Konturen freilich allmählich zu zerfließen begannen“.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen