© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/09 23. Oktober 2009

Stimmungsbarometer aus dem Schützengraben
Eine imposante Sammlung von Feldpostbriefen aus dem Zweiten Weltkrieg offenbart ungeschminkte Lageberichte mit großer gesellschaftlicher Bandbreite
Joachim Sterz

Der Blick in eine Sammlung von mehr als 40.000 Feldpostbriefen beleuchtet den Zweiten Weltkrieg auf besondere Weise. Die Momentaufnahmen zeigen, daß die Deutschen kein Volk von Widerstandskämpfern waren – aber eben alles andere als nur ein „Volk von Nazis und Parteigenossen“.

Vor siebzig Jahren begann mit dem deutschen Angriff auf Polen der Zweite Weltkrieg, der den europäischen Kontinent nachhaltig veränderte. Doch wie war das damals? War Deutschland gänzlich ein „Reich des Bösen“? Waren alle Deutschen Mitläufer eines verbrecherischen Regimes? Den nach dem Krieg geborenen Karlsruher Reinhold Sterz reizten diese Fragen, sich dem Thema auf spezielle Weise zu nähern: In vielen Jahren sammelte er Zigtausende Feldpostbriefe und Tagebuchaufzeichnungen und wertete sie inhaltlich aus – quasi als Geschichtsschreibung von unten. Die größte Privatsammlung ihrer Art wird heute in der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart aufbewahrt.

In Deutschland und an den Fronten wurden in den Jahren 1939 bis 1945 viele erschütternde Briefe geschrieben – Dokumente der Freude, des Fragens und des Suchens, des Beistands und der Belehrung, des gegenseitigen Trosts und der liebenden Zusicherung. Der Brief wurde wieder kostbar.

Gelegenheit und Anlaß zum Briefeschreiben gab es während des Zweiten Weltkrieges genug, denn durch die stetige Ausdehnung der Kriegsschauplätze wurden die Menschen immer wieder auseinandergerissen und über Kontinente hinweg getrennt. All diese Briefe waren für ein bestimmtes „Du“ geschrieben – keiner ihrer Schreiber hat je an eine Veröffentlichung gedacht oder ein Publikum vor Augen gehabt. Das gibt dieser Art der Auseinandersetzung mit der Geschichte den besonderen Reiz. Zu Wort kommen Frauen und Männer aller gesellschaftlichen Schichten, der verschiedensten Berufe: Künstler, Arbeiter, Soldaten, Studenten, junge „Arbeitsmänner“ und „Arbeitsmaiden“. Eine Mutter, die den Tod ihres Sohnes als Soldat beklagt, ebenso wie der Parteigenosse, der sich an die vorgesetzte Dienststelle wendet; da unterhalten sich zwei Regimentskommandeure des Ersten Weltkriegs über die strategische Lage; ein Soldat setzt an der Ostfront sein Testament auf.

Geschichtliche Dokumente oft achtlos weggeworfen

Auch das Bild der Männer in Feldgrau wird beleuchtet. Es waren nicht nur begeisterte Jünglinge. Das Wort „Held“ findet sich fast nie in der Sprache der Soldaten, wohl aber deftiger Humor und grimmige Derbheit. In den ausgewerteten Briefen läßt sich gleich einem Stimmungsbarometer ablesen, wie politische oder militärische Mißerfolge ihren Niederschlag ebenfalls in den Korrespondenzen fanden.

Aus der Feldpost lassen sich unterschiedliche Phasen nachzeichnen: zu Kriegsausbruch 1939 Betroffenheit; bis zu Beginn des Westfeldzuges 1940 nüchterne Zurückhaltung; nach den Erfolgen im Westen überschwengliche Freude, fast Euphorie; dann, nach dem Ausbleiben des erwarteten Zusammenbruchs Englands im Herbst 1940, leichte Resignation; beim Ausbruch des Rußland-Feldzugs im Juni 1941 völlige Überraschung, die durch die Erfolgsmeldungen bis hin zum furchtbaren Winter 1941/42 überspielt werden konnte. Nun tauchten erstmals im offiziellen Sprachgebrauch Worte wie „siegreiche Rückzugsgefechte“ oder auch „Frontverkürzung“ auf. Im Sommer 1942 gab es noch einmal das große Hoffen auf eine Wende, bis der Winter 1942/43 den deutschen Soldaten – sowohl in Afrika wie spätestens nach Stalingrad offenkundig – nur Rückzug bescherte. Von 1943 an liest man mehr und mehr über die Auswirkungen der alliierten Luftangriffe auf die Städte im Reichsgebiet und die Sorgen um das Leben der Angehörigen; 1944 dann noch einmal das Hoffen auf die Entscheidung im Westen und die oft beschworenen „Wunderwaffen“ – bis dann nur noch nüchterne Liquidationsberichte von den Fronten und dramatische Schilderungen von der Vertreibung eintreffen.

Reinhold Sterz gelangte durch Flohmarktbesuche, bei Wohnungsauflösungen und über Zeitungsannoncen an das Material. Er bedauerte, daß die alten Zeilen oft achtlos weggeworfen wurden: „Viele sind sich gar nicht bewußt, daß dadurch geschichtliche Dokumente für immer verlorengehen.“

Als Sterz 1989 starb, hatte der erst 41jährige Geschichtsautodidakt mehr als 40.000 Briefe aus den Jahren 1939 bis 1945 zusammengetragen. Ein Teil der Korrespondenz wurde sieben Jahre zuvor in dem Buch „Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939–1945“ im Münchner Verlag C. H. Beck veröffentlicht (ISBN 978-3-40608-677-9). In der Bibliothek für Zeitgeschichte der Württembergischen Landesbibliothek kann jetzt der Fundus eingesehen werden.

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