© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/09 30. Oktober 2009

Der Wind dreht sich
Intellektueller Zeitgeist: Die Realitäten erzwingen eine Korrektur der linken Deutungshoheit
Karlheinz Weissmann

Götz Kubitschek hat im Blick auf den „Fall Sarrazin“ das Gedankenexperiment vorgeschlagen, zehn Jahre in die Zukunft zu blicken und sich zu fragen, wie die Äußerungen des Sozialdemokraten und Bundesbankvorstands erscheinen werden, wenn in der Zwischenzeit eine starke rechte Partei ins Parlament einziehen und maßgeblich über Einwanderung, Integration und Rücksiedlung mitbestimmen könnte. Sicher würde Thilo Sarrazin als Wegbereiter betrachtet: einer der wenigen, die gerade noch rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannten und den Mut aufbrachten, das Richtige zu sagen, als die ganz große Mehrheit der Verantwortlichen das nicht tat und sich gegen besseres Wissen an das Falsche hielt.

Soweit die Utopie. Aber wie jede Utopie gewinnt auch diese Plausibilität daraus, daß man fortspinnt, was sich in der Gegenwart schon andeutet. Und es gibt tatsächlich Indizien dafür, daß  wenn nicht die Äußerungen Sarrazins, so doch die Reaktionen darauf Anzeichen für eine gesellschaftliche Klimaänderung sind.

Symptomatisch war schon der Strategiewechsel der Bild-Zeitung. Nachdem die Redaktion anfangs auf Skandalisierung setzte, in der Meinung, der Leser werde willig wie immer den politisch korrekten Vorgaben folgen, hat sie nach kurzem Zögern – irritiert durch die massenhafte Zustimmung für Sarrazin – beschlossen, den Kurs zu ändern. Da man im Umfeld Kai Diekmanns sehr genau weiß, daß die Manipulation des „kleinen Mannes“ Grenzen hat und sich keine Blattlinie gegen kompakte Mehrheiten durchsetzen läßt, ging man zur Anpassung über. Sarrazin erscheint in Bild zwar nicht gerade als der Volksheld, den viele Bürger – und Leserbriefschreiber oder Netzkommentatoren – in ihm sehen, aber doch als Einzelgänger mit kantigem Profil und ehrlichen Absichten.

Dem Mentalitätswandel an der Basis korrespondiert im Überbau eine Kräfteverschiebung in der Feuilletondebatte. Begonnen hatte alles im Juni mit Peter Sloterdijks Vorstoß in der FAZ gegen die Ausbeutung der produktiven Schichten durch den Steuerstaat und der Forderung, den Zusammenhang von Betreuung und Unfreiheit namhaft zu machen. Etwas verklausuliert ging es sogar um die Legitimität des Widerstands gegen die Expropriation des Mittelstands zugunsten eines – nicht zuletzt durch Migration – dauernd wachsenden Lumpenproletariats.

Die Reaktion kam verzögert, lustlos, aber siegesgewiß aus dem Rest der Frankfurter Schule. Axel Honneth, geschäftsführender Direktor des von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in den 1950er Jahren neubegründeten Instituts für Sozialforschung, wollte in der Zeit Sloterdijk in gewohnter Manier erledigen (Kollege Christoph Menke assistierte nur) und warf ihm mangelnde soziale Verantwortung und Versagen angesichts von universalen Werten und Aufklärung vor (JF 41/09). Nach dem Muster westdeutscher Debatten hätte die Auseinandersetzung damit ein Ende gehabt und Sloterdijk als erledigt gegolten.

Aber davon ist keine Rede. Nicht nur, daß Sloterdijk selbst sich mit Bravour zur Wehr setzte, vergangene Woche nun ergriff Karl Heinz Bohrer ebenfalls in der FAZ die Gelegenheit, ihn zu unterstützen, auch um mit Auffassungen abzurechnen, die Urteilsvermögen und Kenntnis für verzichtbar halten und meinen, daß sie durch politischen Kitsch und „plebsfreundliche Entrüstung“ bei „schierer Verblendung“ ersetzt werden könnten.

Diese Abläufe sind deshalb so bemerkenswert, weil sich an ihnen zweierlei ablesen läßt: der Zerfall des maßgeblichen, seit den siebziger Jahren etablierten Konsenses in der Klasse der Sinnvermittler und eine Erwartungsenttäuschung, die weltanschauliche Konsequenzen nach sich ziehen muß.

Denn Sloterdijk und Bohrer galten einmal als Leitfiguren der intellektuellen Linken. Wie ihre Kontrahenten haben sie ihre akademische und öffentliche Karriere im Gefolge von ’68 begonnen und sich den Zeitgeist zunutze gemacht. Es gab zwar früh dissidente Neigungen, aber an der prinzipiellen Zurechnung änderte das nichts. Was letztlich den Bruch bewirkte, ist schwer zu sagen, für unseren Zusammenhang aber auch ohne Belang. Wichtig erscheint nur, daß die Abwendung zu tun hat mit der Frustration über den geringen Wirklichkeitsbezug der vorherrschenden Ideologeme.

Bei Sloterdijk wie bei Bohrer ist seit längerem erkennbar, daß sich ihre Interessen und Interpretationen immer weiter von dem entfernen, was im weitesten Sinn noch als links faßbar ist, weil sie den Eindruck haben, daß die Realitäten selbst eine solche Korrektur erzwingen (frappierend die Bezugnahme Bohrers auf Arnold Gehlen, der „ohne Anleihen an theoretische Nomenklaturen Wirklichkeit in Worte zu fassen imstande“ war).

Sollte es tatsächlich zum offenen Bruch kommen, wäre das ein Grund für vorsichtigen Optimismus. Denn anders als die schon seit längerem beobachtbare Drift der Mitte ins Neubürgerlich-Pseudokonservative könnte sich hier ein echter Konflikt abzeichnen, das heißt es ginge nicht mehr ums Dekor und vorschnelle Versöhnung mit dem arrivierten Gegner, sondern um dessen Bekämpfung.

Sloterdijk hat die „neue Antithese“ umrissen in einem „Manifest“, das die Zeitschrift Cicero in ihrer jüngsten Ausgabe veröffentlichte. Es geht ihm dabei zuerst um die Begründung der These, daß die politische und soziale Gesamtentwicklung neben der „kommentierenden Klasse“ auch die etablierten Parteien zu einer Umorientierung zwingen werde, die die lange Herrschaft des linken Konformismus beenden müsse.

Sollte diese Erwartung zutreffen und es nicht bei der von Sloter­dijk erhofften Revolte der Leistungsträger bleiben, muß die intellektuelle Rechte die strategischen Möglichkeiten dieses Vorgangs richtig einschätzen – und das heißt auch, sich damit abfinden, daß nun von anderen mit größerer Aussicht auf Resonanz viele Analysen und Warnungen vorgetragen werden, die man selbst in der Vergangenheit immer wiederholt hat, ohne auf Gehör zu stoßen.

Man darf das als bitter empfinden, sollte aber getröstet sein durch die Regelmäßigkeit, mit der sich dieser Vorgang wiederholt. Der Anfang dieses Jahres verstorbene Caspar von Schrenck-Notzing hat einmal geäußert, daß es ein Mißverständnis sei, in den Konservativen jene zu sehen, die immer nur auf schon eingetretene Ereignisse reagierten. Tatsächlich lasse sich die konservative Haltung besser daraus erklären, daß der Konservative die Dinge in statu nascendi beobachte, daß er vor den anderen absehe, was eintreten werde. Das erkläre die Anziehungskraft, die die konservative Position auf verantwortungsbewußte Menschen ausübe, aber auch die mangelnde Wirksamkeit. Propheten können eben keine Partei bilden.

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