© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/09 30. Oktober 2009

Heimat – Teil 3
Die überlieferte Substanz
von Rainer Gebhardt

Das Thema ist endlos. Kontroversen sind vorprogrammiert. Dabei kann es nicht darum gehen, welche politischen Zumutungen dem Begriff jeweils aufgedrängt wurden. Da erfährt man zwar viel darüber, welche Ideologien sich darin je und je widergespiegelt haben, die Sache selbst ist damit nicht erfaßt. So bleibt die Frage, was den Kern dessen ausmachen könnte, das uns selbst dann noch beutelt, wenn unsere Spezies womöglich längst auf einem anderen Stern hockt. Daß es den Sehnsuchts-Ort „Heimat“ dann nicht mehr gibt, spricht nicht für eine Gegenstandslosigkeit des Heimwehs. Im Gegenteil: Auch ein Phantomschmerz ist ein Schmerz. Er zeigt zwar einen Verlust an, verweist aber zugleich auf das Vorhandensein humaner Substanz. Konservativ ist es, darauf zu bestehen, daß es ihrer gerade dann bedarf, wenn sie zu verschwinden droht. Sie aufzugeben, hieße einen unglaublichen Wirklichkeitsverlust zu akzeptieren und das Humane zu relativieren. Denkend können wir freilich alles relativieren. Aber relativistisch leben, das hat noch keiner vermocht.

2 – Frank Lissons Beitrag „Was ist Heimweh?“ (JF 35/09) schloß mit einem Blick auf die Philosophie von Bloch und Heidegger. Nun kann man zwar, wie Lisson es tut, an Heidegger und Bloch einen gemeinsamen „Urschmerz“ an deutscher Heimatlosigkeit diagnostizieren, doch läßt sich ihre Philosophie damit nicht auf einen gemeinsamen Begriff bringen. Auch nicht auf den der Heimat – gerade auf den nicht. Denn an ihm unterscheiden sich Bloch und Heidegger wie Utopie und Wirklichkeit.

3 – Bloch fädelt seine Utopie mit einem Geschichtsbegriff ein, der über die Zukunft zu verfügen meint in einer „real möglich“ sich ereignenden Erlösung. Wie Heimat nicht Herkunft, sondern Zielrichtung der Hoffnung sei, so sei der Mensch erst noch zu schaffen: „Nicht nur wir, sondern die Welt selber ist noch nicht zu Hause.“

Dem widerspricht Heideggers Philosophie grundlegend: Sie weigert sich, den Menschen so zu verstehen, als sei er nicht immer schon da. Daß alles nur besser werden kann, mag ein Einspruch gegen die Tatsachen sein; ein Absprung von der „Geworfenheit“ der menschlichen Existenz, dem Sein zum Tode, ist es nicht. Weil das menschliche Dasein Frist-Charakter hat, scheitern alle Hoffnungen, über die Zeit und die Geschichte hinausgehen zu können. Die Zeit ist bodenlos. Weil Vergängnis zugleich Verhängnis ist, ist Offenheit der Zukunft dann eben nicht Möglichkeitsvorhalt, wie Bloch meint, sondern erlebte Kontingenz: Alles, was kommt, kommt nicht nur anders, auch das im Werden Erhoffte ist nicht das, was aus dem Erhofften werden wird. Kontingenz verdirbt nicht nur den Spaß an der Utopie, sie zwingt den Menschen auch, sich in der Welt einzurichten. „Wohnen“ und „Heimat haben“ gehören zu seiner ontologischen Grundverfaßtheit.

Angesichts unkorrigierbarer Verlust­abschreibungen im welthistorischen Fortschritt hält Heidegger so an einem Verständnis von Heimat fest, das den Bestand an Traditionen wie ein schon einmal Gewußtes, manchmal auch besser Gekonntes auf deren unerhörten Klang abklopft. Es muß, wer von Heimat redet, auch vom Haus sprechen, davon, wie es und was mit ihm gebaut wird.

4 – Nach Heidegger setzt Bauen selbst erst noch ein Wohnen voraus – für ihn beispielhaft realisiert im Schwarzwaldhaus. Der reinen Zweckrationalität enthoben, ist es „eingeräumt“ durch die Verläßlichkeit von Dingen, vermöge derer der Mensch sich der Erde und dem Himmel, dem Tod und der Geburt öffnet. Zu ihm gehören Kindbett und Totenbaum, Sonnengang und Mondlauf. Der Mensch bewohnt in solchem Haus nicht einfach einen neutralen Raum – sondern die Beredtheit dieser Dinge ist es, die ihm Raum gibt. Sowenig also Heimat zu denken ist ohne das konkrete Haus, sowenig kann dieses Haus ein menschliches sein, wenn es nicht von der „Inständigkeit des Vermögens“ gebaut ist, „Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen einfältig in die Dinge einzulassen“ (Heidegger).

Keine Idylle macht ein Haus zu einer Heimat, sondern eine überlieferte „Substanz“, die von seinen Bewohnern in der Zeit eingebracht wird. Dazu dann die Alltagsdinge des täglichen Lebens, die Geschichten, die Einsamkeiten, der Lärm der Feste, die Menschen, die ein- und ausgehen, der Geruch in der Diele, das Licht im Treppenhaus, die Farbe der Wände, die Geräusche der Stille, die Stimmen der Eltern und der Geschwister – das alles liegt wie ein Koordinatensystem in uns. An ihm messen wir Weite und Enge, Freundlichkeit und Geborgenheit auch dort, wo wir nur Gast oder für immer fremd sind.

Drei Zimmer, Küche, DDR im Elfgeschosser: Die Einheitlichkeit und Monotonie der sozialistischen Platte, ihre zur Entropie erstarrte Ordnung, ihre aus einem Mangel abgeleitete Funktionalität werden zur Märchenwiese glücklich erinnerter Vergesellschaftung.

Darum gehörte das Haus der Kindheit lange zu den nicht veräußerbaren Bildern von Heimat. In ihm sind nicht nur die meisten unserer Erinnerungen untergebracht, hier wird „Heimat haben“ als lebensweltliche Selbstverständlichkeit erfahren und das Verhältnis des Menschen zu seiner Welt zuerst geprägt. Nicht Sehnsucht nach Butzenscheiben oder nach dem „Gnadenschatz“ von Sozialutopien wäre dann Heimweh, sondern das Bewußtsein einer „konstitutionell bedingten Grenze“ (Karen Joisten). Das erst erlaubt die Konstruktion von Sinn und Ordnung und schafft Weltvertrauen.

Im Schwarzwaldhaus, so Heideggers Fazit, wurden Sinn und Ordnung geschaffen, indem mit den Toten das Vor- und mit den Göttern das Außerweltliche ins Wohnen einbezogen wurden. Kein Zweckrationalismus stiftet Sinn und Ordnung, diese ergeben sich im Einrichten des Wohnens. Sie sind weder metaphysische noch funktionale Form, sondern transzendentaler Gehalt – erfahrbar in der Beredtheit konkreter Dinge. Darum ist es nicht das christliche Kreuz, das einen Atheisten in einem alten Bauernhaus verstört, sondern die Ahnung, daß ihm der innere Zugang zu solchen Räumen verwehrt bleibt.

5 – Nach Heidegger ist es dieses „gewesene Wohnen ... das uns Bauen zu lehren vermag“. Das Thema Heimat wäre also auch an den Verwüstungen unserer Städte durch die Architekturmoderne abzuarbeiten. Sie gehören zu den sublimen Formen von Vertreibung. Rückblick: Drei, Zimmer, Küche, DDR – das war die Zwischenstation auf dem Weg ins Reich der Freiheit, hier sollten die Hybriden des Kommunismus ausgebrütet werden. Das Experiment ist mißlungen. Um so größer die Verblüffung, daß bei vielen Linken ausgerechnet die „Platte“ zum mythischen Ort aufgehobener Entfremdung avanciert. Als ob diese „Fickschachteln“ (Heiner Müller) und nicht die Datsche im Grünen das Sehnsuchtsziel der arbeitenden Klasse gewesen wären, gelten Wohnmaschinen wie Halle-Neustadt und Berlin-Marzahn einer linken Stadtsoziologie als realisierte Utopie sozialistischer Lebensentwürfe. Den Aufbruch der Betonwüsten durch den Einbau neuer Wohnformen, durch Streuung von neuen Eigentumsformen versteht man deshalb in erster Linie als Angriff auf die genuine Heimat des Proletariats.

Die Einheitlichkeit und Monotonie der sozialistischen Platte, ihre zur Entropie erstarrte Ordnung, ihre aus einem Mangel abgeleitete Funktionalität werden zur Märchenwiese glücklich erinnerter Vergesellschaftung. Unterschlagen wird, wie dem Furor des Aufeinanderschachtelns von Wohnmodulen das geplante Verfallenlassen oder der Abriß überlieferter Stadtsubstanz entsprach. Damit drohte nicht nur eine über die offizielle DDR-Geschichte hinausgreifende Erinnerung an Herkunft und Tradition zu verdunsten, es verschwand damit auch ein Raum, wo Heimat unbefragt und jenseits aller politischen Begründungszwänge öffentlich war. Der Abriß dieses Raums gehörte zu den unübersehbaren Untergangssymptomen der DDR, auch er befeuerte den Widerstand der Bürgerrechtler vor zwanzig Jahren. Wem Blochs utopische Kinderlieder besser gefielen, der hörte freilich nicht, wie der Klang der Abrißbirne die Zukunftshymnen kontrapunktierte.

6 – Die „Platte“ ist keine spezifisch mitteldeutsche Erfindung. Massierung, Verdichtung und Vertikalisierung gehören zum ideologischen Baukastensystem der Moderne, vorgedacht schon 1935 in den detailgenauen Entwürfen von Le Corbusier (JF 36/09). Die Beton gewordenen Ideen des Uhrdeckelgraveurs, der nie Architektur studiert hatte, kann man in seinen Plänen zur Strahlenden Stadt (Ville Radieus) und den Unités d’Habitation bestaunen. Sie sind weder topographischen noch historischen Bedingungen angepaßt. Lebensweltliche, kosmische Bezüge, Natur – alles wird zur Funktion von Domestikation. Auch öffentlicher Raum bedeutet hier zuerst Zugriff auf Individualität.

Die sozialistischen Versionen dieser Sozialutopie erreichten aufgrund mangelnder materieller Ressourcen nur eine Schwundstufe. Was sie mit den Ideen von Le Corbusier verbindet, ist ein der Totalität des Entwurfs immanenter Ordnungsappell: Weit davon entfernt, Individualität zu sozialisieren, wurde in den zu einer monströsen Komunalka verdichteten Wohnmaschinen das Anarchische kaserniert, das Unberechenbare in eine Gleichung gebracht, das Abschweifende in Funktionsabläufe eingebaut. Das vergißt, wer die von Corbusier erbaute Villa Savoye (1929) als beispielhafte Moderne anstaunt. In großzügige Raumstrukturen eingelassen, umgeben von Natur und dezent von urbaner Hektik abgeschirmt, entbehrt sie nicht des Reizvollen. Zugleich aber läßt sich an diesem Solitär studieren, wie eine im Kleinen gerechtfertigte Funktionalität in Horror umschlägt, sobald sie zum Planungskriterium für Großprojekte wird.

Tröstlich dagegen, wer aus der Verwahrlosung moderner Städte in ein Ensemble klassischer Bauwerke gerät. Die vorbildlichen Bauten, der genial gegliederte Raum, das mit dem menschlichen Leib korrespondierende Maß – das gab es längst, gibt es immer.

7 – Bis heute geistert Corbusiers Gespenst durch unseren Städtebau. Die Beispiele sind Legion, und ein Ostspezifikum – wie in Warschau-Śródmieście-Północne etwa – sind sie auch nicht. Berlin-Gropiusstadt, Hamburg-Mümmelmannsberg, Frankfurt-Bonames, Frankfurter Berg, Köln-Kalk, die Banlieues von Paris, die Vorstädte der Metropolen überhaupt: Vom Verwertungsstandpunkt aus gesehen sind diese Habitate vollkommen – sie sind auf Abriß geplant. Er ist die Bedingung dafür, daß überhaupt etwas erscheinen, die Mühle weiter mahlen kann. Womöglich ist dies das Geheimnis unserer Moderne: Sie inszeniert die Welt, indem sie mit den immer grotesker werdenden Entwürfen gleichzeitig ihr Verschwinden aus dem Hut zaubert. In der Draufsicht entworfen und CAD-optimiert, gleichen solche Städte vektoriellen Netzen. Weshalb diese Städte sich gleichen wie ein Ei dem anderen. Eine bestimmte Straße oder eine Ecke – man weiß nicht mehr, wo in aller Welt sie gelegen haben können. Wie im Netz heißt „hier sein“ nirgendwo sein.

Nicht nur das Individuelle ist hier keine Orientierungsmarke mehr. Eingeebnet ist auch, was Mircea Eliade als konstitutiv für das Heimat- und Menschlich-Werden eines Ortes beschrieb: die Erfahrung des Unterschieds zwischen profanem und heiligem Raum. Salopp gesagt: Wenn eine Kirche aussieht wie ein Bankgebäude, kann man auch gleich die Aktienkurse anbeten. Es ist, als hätten Monotonie und Häßlichkeit solcher Städte den Zweck, uns dem Nomadenstil gefügig zu machen. Denn wer hier zugerichtet wurde, kann beinahe überall leben. Wer Oden auf die Moderne singt, empfahl schon Walter Kempowski, sollte sich diese Vorstädte vornehmen: Sozialidiotie und eine marodierende Stadtplanung haben hier die Vorhölle gebaut. In solchen Soziotopen tröstet auch keine metaphysische Heimat, hier muß jeder individuelle Lebensentwurf zu einem Fluchtplan werden.

8 – Der Trost dagegen, wenn man, aus dieser Verwahrlosung kommend, in ein Ensemble klassischer Bauwerke gerät. Die vorbildlichen Bauten, der genial gegliederte Raum, das mit dem menschlichen Leib korrespondierende Maß – das gab es längst, gibt es immer noch, wir können es in der Realität erleben. 500 Jahre und älter, erinnern sie uns an etwas Zivilisationsgründendes: an ein Wissen um Dimensionen und Proportionen, das unsere Erwartungen an ein Haus beinahe instinktiv erfüllt, an eine Vertrautheit mit dem Nahen und Fernen, mit Landschaft und Himmel. Da steht man und staunt: So also sieht das Gekonnte aus, das beinahe Vollkommene. Und man ahnt, was unserer Betonfunktionalität fehlt.

9 – Nachtrag

Manchmal sehe ich mir die alten Fotos in unseren Familienalben an. Die ältesten sind über 120 Jahre alt. Großväter und Großmütter, Onkel, Tanten, Unbekannte. Damals ließ man sich fotografieren, um sich zu erinnern, nicht, um sich zu zeigen. Sie, die sich einst naiv dem Blick des Objektivs aussetzten, sehen aus, als kämen sie aus einer immerwährenden Gegenwart, als wäre das Wunder der Aufnahme ein Beweis gegen die Zeit. Das Schwarzweiß der Bilder, die verschleiernde Körnigkeit des Bromsilbers, die unbeholfenen Gesten, die skeptischen Gesichter und das ebenso amateurhaft wie rührend Gestellte der Aufnahmen verstärken diesen Eindruck. In die Betrachtung dieser Gesichter und Augen vertieft, ist es, als könnte ich mich an ihre Erinnerungen erinnern, an die Luft, die sie geatmet, die Erde, die sie beackert haben. Ich frage mich, welche Vorstellungen sie von Glück hatten. Sie werden keine außergewöhnlichen Ambitionen gehabt haben. Was bedeutet ihnen Heimat?

Ich kann mir nicht denken, sie wären auf die Idee gekommen, sich zu fragen, wer sie sind. Unvorstellbar, sie hätten nach ihrer Identität gesucht. Sie wußten, wo sie herkamen und wo sie hingehen würden. Ihre Blicke auf den Fotos lehren einen, daß Glück und Identität zu den Mogelpackungen der Moderne gehören. „Nichts“, sagen diese Blicke, „nichts wird stattgefunden haben als dieser Ort“ (Stéphane Mallarmé). An ihm bleiben wollen und vom ihm fortgehen können, ist Heimat haben. An ihn zurückkehren zu können, gehört in unserem Jahrhundert zu den aufgegebenen Projekten. Heimat ist das, was verschwunden ist, wenn du heimkommst.

 

Rainer Gebhardt, Jahrgang 1950, studierte Philosophie in Jena. Nach freier Mitarbeit in verschiedenen Verlagen war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Goethe-Nationalmuseum in Weimar. 1983 erfolgte die Aberkennung der Staatsbürgerschaft und Ausreise aus der DDR. Seitdem ist er als Texter für Werbeagenturen, Kommunikationsberater für Großunternehmen und als freier Autor tätig.

„Welt ist immer ein konkreter Ort“: Die Artikelreihe über „Heimat“ begann auf dem Forum mit einem Beitrag von Rainer Gebhardt (JF 26/09), wurde von Frank Lisson fortgesetzt („Was ist Heimweh?“, JF 35/09) und wird heute abgeschlossen wiederum mit einem Text von Gebhardt. Er setzt sich mit dem Zusammenhang zwischen Bauen, Wohnen und Heimatgefühl auseinander.

Foto: DDR-Plattenbau-Typ WHH GT 18 in Ostberlin: „Was Sie hier sehen, meine junge Freundin, ist die Bankrotterklärung der Architektur. Häuser werden nicht mehr gebaut, sondern produziert wie eine beliebige Ware und an die Stelle des Architekten ist der Ingenieur getreten“ (Brigitte Reimann, „Franziska Linkerhand“, 1974).

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