© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/09 06. November 2009

An der Mauer verbluteten alle Hoffnungen
Das biographische Handbuch über die Todesopfer an der Berliner Mauer entreißt weitgehend unbekannte Schicksale der Anonymität
Werner Lehfeldt

Zum bevorstehenden 20. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer sind in den letzten Monaten bereits zahlreiche wertvolle Bücher erschienen, in denen die Geschichte der deutschen Revolution der Jahre 1989/90 in ihrem gesamten Verlauf oder unter Konzentration auf bestimmte herausragende Ereignisse wie etwa die Maueröffnung am 9. November 1989 dargestellt und analysiert wird.

Unter diesen Veröffentlichungen verdient das vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und der Stiftung Berliner Mauer erarbeitete Handbuch „Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961–1989“ besondere und eindringliche Beachtung, läßt es doch die Erinnerung an die „mörderische Realität“ der Mauer in der angemessensten Weise wiederaufleben. Die Autoren bemühen sich, „klare Zahlen über die Todesopfer an der Mauer zu ermitteln“, vor allem aber dadurch, daß die Lebensgeschichten und die Todesumstände der Maueropfer, soweit sie zu ermitteln waren, „dem verordneten Vergessen des SED-Regimes“ entzogen werden.

So wird die Schreckensbilanz der Berliner Mauer ent-anonymisiert, erhält jedes einzelne Opfer einen ihm gewidmeten Abschnitt, durch ein Foto zumeist auch ein Gesicht, wird als Individuum wahrgenommen und bekommt auf diese Weise die Würde zurück, die das SED-Regime den Mauertoten nehmen wollte, indem es sie als „moralisch verkommene Personen“, als „kriminell Angefallene“, als „asozial“ oder ähnliches brandmarkte, ohne ihnen auch nur im Ansatz ein möglicherweise doch ernst zu nehmendes Fluchtmotiv zuzubilligen.

Der Leser kann den meisten Mauertoten sozusagen ins Gesicht sehen, erfährt ihre Namen, erfährt etwas über ihr in den meisten Fällen nur kurzes Leben – die meisten der Todesopfer waren junge Männer im Alter zwischen 16 und 30 Jahren –, über ihre Fluchtmotive, über ihren Tod an der Mauer – meist durch Erschießen, nicht selten durch Ertrinken oder andere Unglücksfälle – und nicht zuletzt über die entmenschlichte Sprache, mit der die Staatssicherheits-„Organe“, die Partei und ihre Medien über die „Grenzdurchbrüche“ von „Grenzverletzern“ und „Verbrechern“ berichteten, wenn sich das nicht vermeiden ließ. Und schließlich erfährt man etwas über den zynischen Umgang der Stasi mit den Toten und deren Angehörigen. Letzteren war das „Zeigen der Leiche“ zu verweigern, und selbstverständlich wurden sie systematisch über die Umstände belogen, unter denen ihre Verwandten zu Tode gekommen waren.

Die Autoren unterscheiden mehrere Gruppen von insgesamt 136 Maueropfern, deren Schicksale sich auf dem Weg der Einzelfallprüfung, durch Auswertung aller verfügbaren Akten und oft auch durch Befragung von Angehörigen zuverlässig ermitteln ließen. Die größte Gruppe (98 Personen) bilden Flüchtlinge, die bei dem Versuch, die Mauer zu überwinden, erschossen wurden, tödlich verunglückten oder sich in aussichtsloser Lage das Leben nahmen.

Hinzu kommen 30 Menschen, die im Grenzgebiet verunglückten oder erschossen wurden, obwohl sie gar keine Fluchtabsichten hegten, etwa Kinder, die beim Spielen in ein Grenzgewässer fielen und nicht gerettet werden konnten, und schließlich auch acht Angehörige der DDR-Grenztruppen, die während ihres Dienstes an der Mauer getötet wurden, etwa durch flüchtende Kameraden.

Ferner widmen sich die Autoren der strafrechtlichen Aufarbeitung der Todesschüsse an der Berliner Mauer, bei der die Strafen insgesamt niedrig ausfielen, schließlich auch der Erinnerung und dem Gedenken an die Todesopfer der Mauer.

Die im Handbuch geleistete Arbeit kann nicht genug gelobt und gewürdigt werden. In unaufgeregter, gerade dadurch aber besonders eindringlicher Sprache beschreiben die Autoren das Schicksal von Ida Siekmann, der ersten Mauertoten, Günter Litfin, Lothar Lehmann, Otfried Reck, Peter Fechter, Christel und Eckhard Wehage, Reinhold Huhn und vielen anderen Menschen, deren Leben an der Mauer ein gewaltsames Ende fand.

Wer die beklemmende Lektüre auf sich nimmt, wird nicht ohne Abscheu daran denken, daß die unmittelbare Nachfolgerin der Partei, die für den Tod dieser – und nicht nur dieser – Menschen die unmittelbare Verantwortung trägt, heute wieder eine Rolle im politischen Leben Deutschlands spielen und in aller Öffentlichkeit und ungestraft eine offen antiparlamentarische Politik propagieren kann oder die Verharmlosung des DDR-Regimes als Ausweis innerparteiliche Pluralität kleinreden. Sind zwei totalitäre Regime auf deutschem Boden in einem Jahrhundert noch nicht genug gewesen?

Hans-Hermann Hertle, Maria Nooke (Hrsg.): Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961–1989. Ein biographisches Handbuch. Herausgegeben vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und der Stiftung Berliner Mauer, Ch. Links Verlag, Berlin 2009, broschiert, 524 Seiten, 24,90 Euro

Foto: Mauerkreuze zum Gedenken an getötete DDR-Flüchtlinge in der unmittelbaren Nähe des Reichstags, Aufnahme von 1982: Die meisten Todesopfer waren junge Männer im Alter zwischen 16 und 30 Jahren

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