© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/09 06. November 2009

Wodka mit den „Germanisten“
Russische Gedankenspiele für ein neues Verhältnis zu Deutschland vor 1989
Günther Deschner

Schon 1987/88, als sich die politische Diskussion immer intensiver um das Ende des Kalten Krieges drehte, um Reformen im Ostblock und ein „Aufeinanderzugehen“ bisheriger Gegner, hatten sich auch in Rußland und Deutschland einzelne Gruppen und Persönlichkeiten Gedanken über die Neuordnung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten gemacht, die weit über die offiziellen Kontakte und Sprachregelungen hinausgingen. Es war deutlich, daß Rußland nach einem potenteren Partner suchte als der maroden DDR. Deutschland als Ganzes trat russischen Analysten und Politikberatern immer deutlicher als Hoffnungsprojektion vor Augen.

Hinter dem Rücken der DDR-Führung, die völlig von ihren eigenen Problemen absorbiert war, formierte sich 1987 unter Gorbatschow eine alte Anti-DDR-Fronde neu, die „Germanistenfraktion“, wie sie sich nannte – im sowjetischen Außenministerium um Professor Wjatscheslaw Daschitschew, ansatzweise auch im Apparat des ZK unter Valentin Falin, einem alten Geheimdienstmann, zeitweilig sowjetischer Botschafter in Bonn, und in der Berliner sowjetischen Botschaft um Igor Maximytschew –, von Gorbatschows „Beratern“ Wadim Medwedew und Alexander Jakowlew weitgehend gedeckt. Mit ihrem wachsenden Einfluß begann das „neue Denken“ über eine „veränderte Deutschlandpolitik“ der UdSSR als „geheime Stabsarbeit“.

Nicht alle waren eingeweiht. Der damalige sowjetische Botschafter in Bonn, Juli Kwizinski, wunderte sich darüber, daß Daschitschew, seit April 1987 Vorsitzender des „Wissenschaftlichen Beirates für die sozialistischen Länder Europas“ beim sowjetischen Außenamt, als Berater Gorbatschows auftreten und gleichzeitig die Öffnung der Grenzen der DDR fordern konnte. In der Tat wurde Daschitschew zum Vorreiter einer Änderung der sowjetischen Deutschlandpolitik. Er hatte als „Deutschlandexperte“ bereits im Sommer 1987 ein Memorandum zur Wiedervereinigung Deutschlands ausgearbeitet, das zunächst auf den Widerspruch Falins gestoßen war.

Doch zwei Jahre später hatte sich die Zusammensetzung des ZK der KPdSU und damit das Kräfteverhältnis geändert. Jetzt ging es offener zur Sache. Gorbatschow hatte darüber Klarheit gewonnen, daß in dem von ihm angestrebten „gesamteuropäischen Haus“ nur Platz für ein einziges, ein wiedervereinigtes Deutschland war.

Daraufhin hatten politische Kreise aus dem Umfeld Gorbatschows im Jahr 1988 unter anderem die Literaturzeitschrift Literaturnaja Gazeta und ihren Deutschlandkorrespondenten Anatolij Frenkin den Kontakt zu Persönlichkeiten aufnehmen lassen, in deren Denken – anders als im offiziellen Bonn – die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands eine größere Rolle spielte als die fixe Idee einer unantastbaren, niemals wandelbaren Bindung an die USA und den „Westen“, auch um den Preis der fortgesetzten Teilung. Einer der Ansprechpartner der Russen war der vom offiziellen Bonn wegen seiner nationalen Haltung schräg angesehene Erlanger Historiker Hellmut Diwald, der seinerseits weitere deutsche Persönlichkeiten – Verleger, Journalisten, Unternehmer und Wissenschaftler – informierte. Sie wurden in die sich entwickelnden Gespräche mit einbezogen.

Andere Gesprächskanäle waren zwischen dem Deutschlandexperten Daschitschew und dem Experten für Internationales Wirtschafts- und Völkerrecht Wolfgang Seiffert geöffnet worden, der als Professor an Universitäten in Deutschland und in Rußland lehrte. Schnell zeigte sich, daß es außerhalb der Bundestagsparteien einflußreiche Kräfte gab, die die neuen Chancen sehr wohl sahen, so etwa der Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, der damals erklärte: „Wenn ich Politiker wäre, würde ich jetzt die Wiedervereinigung machen“. Mehrere Gruppen von Industriellen und Wissenschaftlern – wie die um den hessischen Unternehmer und Ingenieur Peter Daublebsky – wandten sich ebenfalls durch Vermittlung Daschitschews mit einem Memorandum an Gorbatschow, in dem sie Standpunkte und Vorschläge für eine in dieser Phase der Weltpolitik denkbar gewordene Wiedervereinigung Deutschlands nach Grundsätzen formuliert hatten, die auch die Zustimmung Rußlands finden konnten und die die außerordentlichen Chancen für beide Länder herausarbeiteten.

Wolfgang Seiffert urteilt in seinen Erinnerungen: „Nur wegen des Zögerns Gorbatschows und der ablehnenden Haltung der damaligen Bundesregierung blieben diese Initiativen nur eine Episode.“

Selbst die Idee einer teilweisen Einbeziehung der in praxi von Polen und der Sowjetunion annektierten deutschen Ostgebiete wurde von russischen (nicht von deutschen!) Gesprächspartnern in den Gesprächskorb eingebracht. Eines der in dieser Hinsicht am weitesten gehenden Gespräche könnte das gewesen sein, das – nach einigen Vorrunden – im Sommer 1989 im Politischen Club des sowjetischen Außenministeriums in Moskau stattfand und an dem ich als Journalist und enger Mitarbeiter eines von Anatolij Frenkin hinzugezogenen deutschen Verlegers teilnahm. Im Verlauf dieses langen Nachmittags und Abends wurde von russischer Seite immer wieder das Thema „Königsberg“ aufgegriffen. Zu den russischen Teilnehmern gehörten unter anderem neben dem erwähnten Frenkin auch der Direktor des dem Ministerium gehörenden Verlags „Meshdunarodnye Otnoshenja“ (Internationale Beziehungen), Boris Lichatschow, sowie der Direktor der „Akademie der Wissenschaften“, der Gorbatschows Beraterkreis angehörende Deutschlandkenner Wladimir Mschwenieradse. Zur Überraschung von uns Deutschen stand nicht die „kleine Wiedervereinigung“ auf dem Programm. Vielmehr schien die Russen brennend zu interessieren, welche Vorstellungen ihre deutschen Gäste hinsichtlich der territorialen und politischen Zukunft „Kaliningrads“ hegten.

Auszüge aus dem Dialog sprechen Bände: „Waren Sie schon in Königsberg?“ wurden wir gefragt. Meine Antwort war: „Nein. Ich bringe es nicht übers Herz, dorthin zu fahren. Ostpreußen ist für mich ein geschändetes Land.“ Als Test für die Spannweite der russischen Gesprächsbereitschaft ließ ich einen riskanten Versuchsballon aufsteigen: „Es gibt nur zwei Gründe, warum ich dorthin fahren sollte: Entweder im Spitzenpanzer meiner Division, was Gott verhüten möge, oder – was für uns alle tausendmal besser wäre – im Sonderzug der deutschen Delegation, die mit Ihnen, meine Herren, die deutsche Zukunft Königsbergs in einer Weise verhandelt, die Ostpreußen zu einem Freundschaftspfand zwischen unseren Völkern machen kann.“

Großes Hallo! Darauf mußte erst ein Wodka getrunken und ein Toast auf die deutsch-russische Freundschaft ausgebracht werden. Wir Deutschen waren perplex, doch die Diskussion entwickelte sich weiter so wie ein Ritt auf der politischen Rasierklinge: Für ein Ostpreußen als Bindeglied zwischen Deutschland und Rußland mußte „Kaliningrad“ umbenannt werden. Zurück zu „Königsberg“ schien den Russen schwer vorstellbar. „Wir müssen auf die vielen Veteranen Rücksicht nehmen …“ Wie sollte die Stadt aber dann heißen? Akademiedirektor Mschwenieradse hatte die Lösung: „Eine Persönlichkeit Königsbergs ist unseren beiden Völkern heilig: Immanuel Kant! Sein Name könnte der Stadt den neuen, unsere Völker verbindenden Namen geben!“ Beifälliges Nicken aller Anwesenden. Wodka. Toast auf die deutsch-russische Freundschaft. „Kantgrad“ war der russische Vorschlag. „Klingt zu sehr nach Stalingrad“, der deutsche Einwand.

Moskaus Emissäre klopften in Bonn an

Verlagsdirektor Lichatschow fand eine neue Lösung. „Ich weiß, daß es im Deutschen möglich ist, eine Stadt auch nur mit dem Namen einer Persönlichkeit zu benennen. In Oberschlesien gibt es die Stadt Hindenburg!“ „Gab es“, warf ich ein. „Die Polen würden das alles, was wir hier bereden, nicht gerne hören!“ Eine wie wegwischende Handbewegung aller Russen: „Die Polen, bah!“ Ein deutscher Teilnehmer, Historiker, warf ein: „Sie denken doch nicht an eine neue polnische Teilung?“ Die Russen erhoben sich. Wodka: „Auf die fünfte polnische Teilung!“ „Die fünfte? Es gab doch bisher nur drei!“ Mschwenieradse erhob sich. Wodka. „Vergessen wir nicht 1939!“ Wie gesagt, vor zwanzig Jahren! Das Gespräch wurde anschließend wieder sachlicher. Doch wie man weiß, klopften Moskauer Emissäre wegen Ostpreußen 1989 auch im offiziellen Bonn an. Angeblich soll Rußland bereit gewesen sein, der Kohl-Regierung die Oblast Kaliningrad (das Königsberger Gebiet) als Tausch gegen die Streichung der russischen Schulden gegenüber der Bundesrepublik angeboten haben. Als Antwort wird immer wieder ein Kommentar des damaligen Bundesaußenministers Genscher zitiert: „Um Gottes Willen! Das wäre das Schlimmste, was uns passieren kann!“ Ob er das wirklich so gesagt hat, ist nicht aktenkundig. So gemeint hat er’s wohl doch.

Fotos: Der Potsdamer Platz in Berlin 1984 ..., ... und 2009

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