© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/09 13. November 2009

Kolumne
Die Illusion eines raschen Sinneswandels
Klaus Motschmann

Der 20. Jahrestag des Mauerfalls und die Auseinandersetzungen um die rot-rote Regierungsbildung in Brandenburg wecken Erinnerungen an die biblische Geschichte von der Vertreibung eines unsauberen Geistes: Nachdem er aus einem Haus vertrieben worden ist, irrte er umher, durchwanderte wüste Stätten und fand keine Ruhe. So beschloß er, in das von ihm verlassene, inzwischen geschmückte Haus zurückzukehren. Doch nicht nur das. Er nahm sieben andere Geister mit, die ärger waren als er, „und so ward es den Menschen im Hause ärger als zuvor“. (Matth. 12,45)

Ärger als zuvor deshalb, weil der „unsaubere Geist“ in seinen Absichten bekannt war und insofern – bei entsprechender Wachsamkeit – keine Gefahr bestand. Die neuen Geister aber traten in allen möglichen Drapierungen auf und verbreiteten alle möglichen Illusionen, von denen sich die Menschen bald enttäuscht sahen. Dazu gehört vor allem die Illusion von einem raschen Sinneswandel der Geister. Bewußt werden die reichen geschichtlichen Erfahrungen übersehen, daß Mauern sehr schnell fallen können, nicht jedoch „die Mauern in unseren Köpfen“, von denen jetzt so auffällig viel die Rede ist.

Dabei sollte bedacht werden, daß sie als Ergebnis einer konsequenten sozialistischen Sozialisierung des Denkens gewachsen sind – und zwar in Ost und West. Dies allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Im Osten unter den politischen Zwängen des Staates; im Westen unter den gesellschaftlichen Zwängen einer straffen „freiwilligen“ Selbstkontrolle. Es kommt jedoch nicht darauf an, wie dieses ideologisch linientreue Verhalten damals zu be- oder auch zu verurteilen ist (dies selbstverständlich auch), sondern wie diese in der DDR entwickelte Verhaltensweise der Intelligenz noch heute nachwirkt.

Jürgen Kuczynski, einer der herausragenden Marxisten der DDR, hat auf dieses Problem bereits Mitte der 1980er Jahre hingewiesen. Er hat beklagt, daß es uns nach der sogenannten Entstalinisierung noch nicht wieder gelungen ist, „einen breiten Meinungsstreit unter uns Wissenschaftlern zu entwickeln. (...) Mangelnder Meinungsstreit aber muß unter allen Umständen für die Wissenschaft und auch auf anderen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens gefährlich sein. Ich würde sagen, die Folgen der Stalinzeit sind heute noch in vielen von uns, sicher auch in mir, spürbar, ohne daß wir uns dessen bewußt sind.“ Wann werden wir uns endlich dessen klar sein?

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste Berlin.

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