© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/09 13. November 2009

Arnold Retzer preist in einem bemerkenswerten Buch die Tugenden konservativer Ehe
Lob der Vernunft
Rolf Stolz

Nicht den besten Ruf haben Psychologen bei vielen Bürgern. Und so mancher Angehörige der Zunft hat dies durch guruhaftes Geschwafel, denglischen Neusprech und mathematische Formel-Spielchen (Wilhelm Salber: „Wir wissen nicht, was wir messen, aber wir messen es exakt“) mitverschuldet.

Doch es gibt auch Seelenforscher und -heiler, die sich den existentiellen Fragen der Zeit stellen, rational und verständlich deuten und verwundeten Seelen zur (Selbst-)Heilung verhelfen. Zu diesen gehört der Mediziner und Psychotherapeut Arnold Retzer (www.arnretzer.de), dessen neues Buch „Lob der Vernunftehe. Eine Streitschrift für mehr Realismus in der Liebe“ derzeit für Aufmerksamkeit sorgt. Retzer, Jahrgang 1952, schreibt teils für die wissenschaftliche Gemeinschaft – zum Beispiel das Standardwerk „Systemische Paartherapie“ (2004) –, mitunter aber auch für ein Laienpublikum.

Seit 1987 ist Retzer an der Universität Heidelberg tätig, wo er zur „Heidelberger Schule“ stieß, die von dem Psychiater und Psychoanalytiker Helm Stierlin, eine Generation älter als Retzer, 1974 ins Leben gerufen wurde. Stierlin erhielt damals den Lehrstuhl für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie, gründete mit anderen die Zeitschrift Familiendynamik und gab diese bis 1995 heraus. Die von ihm entwickelte Heidelberger Familientherapie war ein neuer Ansatz, die Kranken und die Krankheiten „systemisch“, also in ihrem sozialen Geflecht, zu begreifen und zu behandeln. Diese Sichtweise steht in direktem Gegensatz zu allen Versuchen, Wissenschaft auf „Fliegenbeinzählerei“ und funktionelle Nützlichkeit auszurichten. Jenes Weltzerrbild, das den Menschen reduzieren will auf eine quasitechnische Maschinerie oder auf ein freischwebendes Individuum, ist in systemischer Sicht nicht allein unvernünftig, sondern selbst Symptom einer seelisch-geistigen Störung.

Arnold Retzer, seit 1994 habilitiert, folgte Stierlin 1996 für zehn Jahre als Herausgeber der Familiendynamik. Heute leitet er das Systemische Institut Heidelberg, ist Berater, Ausbilder, Anreger. In „Lob der Vernunftehe“ beschreibt er mit einem unbestechlichen, aber gütigen Blick auf das Menschlich-Allzumenschliche, wie Ehen an Überfrachtungen und Überlastungen scheitern, aber auch, wie sie trotz allem gelingen können. Sein Buch ist eine Hymne auf das begrenzte, handfeste Glück und eine kluge Polemik gegen die kapitalistische Zeitdruck- und Wegwerfgesellschaft. Es preist die konservative Tugend, sein Glück in dem Sich-Abfinden mit dem Gegebenen zu finden, statt modernen Machbarkeitswahn in die Ehe zu tragen. Gegen alle Fanatismen und Fantasien der Gender-Mainstreaming-Ideologen sieht Retzer die Ehe als Chance gesellschaftlicher Gemeinschaftsbildung und persönlichen Glücks. Zwar erntet man so bei den Latte-Macchiato-Feuilletonisten eher schäumende Empörung. Die aber, die das wirkliche Leben wirklicher Menschen ein Stück verbessern wollen, finden Hilfe auf einem schwierigen Weg.

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