© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/09 13. November 2009

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Pragmatismus
Karl Heinzen

Angela Merkel hat Hamid Karzai, dem Präsidenten der Islamischen Republik Afghanistan, die „besten Glückwünsche“ zu seiner „Wiederwahl“ übermittelt. Da sich die übrigen Staats- und Regierungschefs der westlichen Wertegemeinschaft mit ähnlich klingenden Gratulationen zu Wort gemeldet haben, ist der Machthaber von Kabul und Umgebung, auch wenn die Mehrheit seiner Landsleute dies vielleicht anders sehen mag, als demokratisch legitimiert zu betrachten.

Für Afghanistan selbst hat dieser Pluspunkt zunächst leider wenig zu bedeuten. Die Macht im Land liegt nicht bei denen, zu deren Gunsten die größte Zahl der in Wahlurnen eingelegten Stimmzettel spricht, sondern bei jenen, die über die meisten Gewehrläufe in den Händen von Gefolgsleuten gebieten. Hier jedoch ist die Konkurrenz noch vielfältiger als bei den zur Wahl stehenden Kandidaten, so daß in einigen Landstrichen sogenannte Aufständische, im anderen simple „Warlords“, in wieder anderen ausländische Isaf-Truppen und in manchen auch ganz gewöhnliche, gut organisierte Kriminelle das Sagen haben.

Wer dieses Wirrwarr der Kompetenzen und Interessen halbwegs unter einen Hut bringen will, muß viel Geld in die Hand nehmen, und daher ist es unfair, Karzai dafür anzuprangern, daß Hilfeleistungen der Geberländer zwar die Korruption erblühen ließen, bislang aber nur wenig zum Wiederaufbau des Landes genutzt wurden. Ausgerechnet in Afghanistan rigoros „good governance“ einzufordern, ist sogar realitätsfern und unpragmatisch.

Auch die wahren Bedürfnisse der Bevölkerung werden durch derartige Appelle etwa aus dem Munde des neuen deutschen Außenministers ignoriert. Natürlich wären die Menschen in Afghanistan froh, könnten sie über instand gesetzte Verkehrswege, eine Versorgungsinfrastruktur oder eine berechenbare Justiz verfügen. Viel wichtiger ist es für sie derzeit aber, daß die Interessengegensätze ihrer Eliten nicht bewaffnet ausgetragen werden, und dazu bedarf es eben des Instruments der Bestechung und eines reichlichen Mittelzuflusses aus dem Ausland, der seine Nutzung möglich macht.

Mit der großzügigen Anerkennung des „Wahlergebnisses“ in Afghanistan hat der Westen daher richtig gehandelt. Es wäre kleinlich, wegen irgendwelcher Verfahrensmängel oder Manipulationen die Nase zu rümpfen und damit letztendlich bloß das Grundvertrauen der Menschen in die Demokratie an sich zu untergraben. Diese ist in Afghanistan nämlich allein schon durch die Tatsache gestärkt worden, daß überhaupt Wahlen stattgefunden haben.

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