© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/09 13. November 2009

Der lange Weg zu Hartz IV
Vor genau 50 Jahren stellte die SPD mit dem Godesberger Programm die Weichen zur Volks- und Regierungspartei
Herbert Ammon

Der Prolog zum Godesberger Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands von 1959 gleicht einem Hymnus:

„Das ist der Widerspruch unserer Zeit,/ daß der Mensch die Urkraft des Atoms entfesselte und/ sich jetzt vor den Folgen fürchtet;/ daß der Mensch die Produktivkräfte aufs höchste entwickelte,/ ungeheure Reichtümer ansammelte, ohne allen einen/ gerechten Anteil an dieser gemeinsamen Leistung zu verschaffen; (...)/aber das ist die Hoffnung unserer Zeit,/ daß der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern,/ von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann/ (...)/ Diesen Widerspruch aufzulösen, sind wir Menschen/ aufgerufen. In unsere Hand ist die Verantwortung gelegt für eine/ glückliche Zukunft oder für die Selbstzerstörung der Menschheit./ Nur durch eine neue und bessere Ordnung der Gesellschaft/ öffnet der Mensch den Weg in seine Freiheit./ Diese neue und bessere Ordnung erstrebt/ der demokratische Sozialismus.“

Der Parteitag von Godesberg vom 13. bis zum 15. November 1959 gilt als die große Zäsur in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie – die Abkehr vom Selbstverständnis als Arbeiterpartei und die Öffnung zur „linken Volkspartei“. Die Vorgeschichte von  „Godesberg“ weist auf das Grunddilemma der Sozialdemokratie, das Auseinanderfallen von sozialistischen Dogmen und politischem Realitätssinn, bis ins Kaiserreich zurück. Das bis 1959 formal gültige Heidelberger Programm von 1925 war ein Dokument der reinen marxistischen Lehre, ausgearbeitet von Rudolf Hilferding („Das Finanzkapital“, 1910) und Karl Kautsky. Das Bekenntnis zur Republik war verknüpft mit Begriffen des Klassenkampfes, mit „Vergesellschaftung“ des kapitalistischen Privateigentums, mit Forderungen zur Demokratisierung von Schule, Justiz und Verwaltung sowie nach Trennung von Kirche und Staat. Die SPD machte sich zum Vorkämpfer einer europäischen Wirtschaftseinheit und der Vereinigten Staaten von Europa. Zugleich forderte sie „die Demokratisierung des Völkerbundes und seine Ausgestaltung zu einem wirksamen Instrument der Friedenspolitik“. Nicht zufällig preist die heutige SPD in ihrem Netzauftritt – noch mit den Konterfeis von Franz Müntefering, Frank-Walter Steinmeier und Hubertus Heil – die damaligen „Forderungen zur internationalen Politik (als) weit in die Zukunft“ weisend.

Wenngleich 1946 abgeschwächt, galten die genannten Prinzipien in der Nachkriegszeit fort. Ungeachtet der  nationalpatriotischen Proklamationen des Weltkriegsfreiwilligen von 1914 Kurt Schumacher konnte es mit sozialistischer und antiklerikaler Programmatik  nicht gelingen, bürgerliche und kirchlich gebundene Wähler für die SPD zu gewinnen.

Aus der verlorenen Wahl von 1953, als die SPD mit 28,8 Prozent noch um 0,4 Prozent hinter das enttäuschende  Ergebnis von 1949 zurückgefallen war, zog der Vorsitzende Erich Ollenhauer die Konsequenz. Er berief 1954 eine Kommission zur Revision des Parteiprogramms. Deren Arbeit nahm nach der erneuten Wahlniederlage 1957 – die CDU/CSU unter Kanzler Adenauer errang sogar die absolute Mehrheit – an Fahrt auf. Den Vorsitz führte Willi Eichler, ethischer Sozialist, dereinst Sekretär des jugendbewegten, dem Idealismus des radikalen Kantianers Jakob Friedrich Fries verpflichteten Philosophen Leonard Nelson (1882–1927) und dessen Nachfolger an der Spitze des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK).

Eichler, einst militanter Freidenker, suchte in den 1950er Jahren das Gespräch mit der katholischen Kirche. Unter seiner Federführung entstanden folgende Passagen über die „Grundwerte des Sozialismus“: „Der demokratische Sozialismus, der in Europa in christlicher Ethik, im Humanismus und in der klassischen Philosophie verwurzelt ist, will keine letzten Wahrheiten verkünden.“ Die SPD ist „die Partei der Freiheit des Geistes. Sie ist eine Gemeinschaft von Menschen, die aus verschiedenen Glaubens- und Denkrichtungen kommen.“ Entsprechend wurde das Verhältnis zu den Kirchen neu definiert: „Der Sozialismus ist kein Religionsersatz.“ Die Sozialdemokratie „bejaht (den) öffentlich-rechtlichen Schutz“ der Kirchen.

Für den Programmteil „Die staatliche Ordnung“ war der „Kronjurist“ Adolf Arndt (1904–1974) verantwortlich. Im Hinblick auf die spätere Ostpolitik, die  vor dem Mauerfall in Richtung Status-quo-Verfestigung tendierte, sowie auf den Modus der Wiedervereinigung im  Glücksjahr 1989/90 sind folgende Sätze erinnerungswürdig: „Die Spaltung Deutschlands bedroht den Frieden. Ihre Überwindung ist lebensnotwendig für das deutsche Volk. Erst in einem wiedervereinigten Deutschland wird das ganze Volk in freier Selbstbestimmung Inhalt und Form von Staat und Gesellschaft gestalten können.“

Unzweideutig war die Abgrenzung von den Kommunisten, die sich „zu Unrecht auf sozialistische Traditionen“ beriefen, „um die Diktatur ihrer Partei zu errichten“. Die Kommunisten „vergewaltigen die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker“. Dessen ungeachtet wachse im kommunistischen Machtbereich „das Freiheitsstreben, das keine Herrschaft auf die Dauer niederhalten kann“.

Das Bekenntnis zur Landesverteidigung bedeutete die Absage an pazifistische Ideen sowie an Konzepte, die gegenüber der 1955 vertraglich fixierten Westintegrationspolitik Adenauers samt Aufbau der Bundeswehr im Rahmen der Nato einen Weg zur Wiedervereinigung durch Verzicht auf Wiederbewaffnung suchten. Am längsten blieb der Wirtschaftsteil kontrovers, in dem die SPD sich zum Schutz des Privateigentums an Produktionsmitteln und zur freien Unternehmerentscheidung bekannte, zugleich zur „Bändigung der Macht der Großwirtschaft“ durch staatliche Wirtschaftspolitik, Formen der Gemeinwirtschaft sowie durch gewerkschaftliche Mitbestimmung.

Der Verzicht auf marxistische Analyse sowie auf Sozialisierungskonzepte führte auf dem linken Flügel zum Bruch in der Partei. Schon 1958 war der zu Unrecht mit einem Hochverratsprozeß belastete Theoretiker Viktor Agartz aus der Partei ausgeschlossen worden. 1961 kam es zum Unvereinbarkeitsbeschluß gegenüber dem ideologisch stramm sozialistischen Studentenorganisation SDS und dessen akademischen Mentoren wie Wolfgang Abendroth und Ossip Flechtheim. Daß der Ausschluß der Linksabweichler in die  Revolte von 1968 münden würde, gehört zur bitteren Ironie der Reformgeschichte von 1959.

Über die Öffnung der SPD für die „68er“ und das Aufkommen der Grünen hat sich der Charakter der SPD noch grundsätzlicher gewandelt als nach „Godesberg“. Nachdem die Partei unter Oskar Lafontaine 1990 die historische Chance der Wiedervereinigung verpaßte, kam sie erst 1998 wieder zum Zuge. Digitale Revolution, ökonomische Folgen des Mauerfalls und soziologische wie demographische Parameter zwangen zum Abbau des seit Anfang der 1970er Jahre überbordenden Sozialstaats. Die Quittung für Hartz IV kam in Gestalt der mit dem politischen Monopolanspruch „Die Linke“ formierenden Konkurrenzpartei.

Vergeblich sucht die SPD seither die Antwort auf ihre Krise. Wenn sie sich nicht im „Kampf gegen Rechts“ verzehrt, findet sie Halt im Hamburger Programm von 2007. Es verspricht, „die Globalisierung politisch zu gestalten“. „Wo der Nationalstaat den Märkten keinen sozialen und ökologischen Rahmen setzen kann, muß dies die Europäische Union tun.“ Zur Verwirklichung globaler Menschheitsziele lehnt die SPD das Vetorecht „einzelner Mitgliedstaaten“ in der Uno ab. Und: „Wer die menschliche Gesellschaft will, muß die männliche überwinden.“ Das Pathos der eingangs zitierten Sätze mag heute befremden. Dennoch: Der Weg in die Banalität war in Godesberg nicht vorgezeichnet.

Fotos: Delegierte des Parteitages in Bad Godesberg 1959: „Der Sozialismus ist kein Religionsersatz“; Parteitags-Plakat 1959: Widersprüche auflösen

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen