© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/09 13. November 2009

Der Vater in der Familie
Das Kind braucht beide Eltern
von Jürgen Liminski

Die Ergänzung von Mann und Frau ist ein modernes Thema. Früher wurde in der Psychoanalyse der Vater eher als bedrohlicher Rivale und als repressives Autoritätsmodell (Sigmund Freud) dargestellt. Heute weiß man: Die primäre Väterlichkeit im ersten Jahr dient der Unterstützung der Mutter, die dem Kind am nächsten ist, es ja auch schon neun Monate lang war; in den weiteren Jahren, wenn das Kind sich aus der sogenannten Mutter-Kind-Dyade langsam löst, entsteht die Triangulation, also die Dreier-Beziehung, die so wichtig ist für die geschlechtliche Identitätsfindung. Und schließlich hat der Vater eine Aufgabe in der Pubertät und Präpubertät, also etwa ab acht, neun Jahren. In dieser Zeit identifiziert sich das Kind mit dem Vater und löst sich dann von ihm. Es braucht ihn als Reibebaum und als Vorbild.

Wenn der Vater fehlt, entfallen vielfach diese Funktionen. Sie sind von der Mutter nur partiell zu ersetzen. Das läßt sich historisch beobachten. Der Düsseldorfer Psychotherapeut Matthias Franz hat mit empirischen Daten darauf hingewiesen, wie sehr die Achtundsechziger-Revolution auch tiefenpsychologisch vom Vaterverlust geprägt war. Es war ein regime-und kriegsbedingter Vaterverlust. Bei 56 Prozent der Kinder des Jahrgangs 1935 war der Vater abwesend, bei 36 Prozent des Jahrgangs 1945 war es so. Die unvollständige Dreierbeziehung schuf erhebliche Identitätsprobleme und Sehnsüchte nach Ersatzvätern. Die flatterten bei den Achtundsechzigern auf den Fahnen und waren wohlbekannt: Ho Chi Minh, Karl Marx, Lenin etc. Andere Autoritäten wurden nicht mehr akzeptiert. Die psychischen Störungen des Vaterverlusts sind selbst nach 50 Jahren noch zu spüren, wenn sie nicht behandelt werden.

Auch heute erleben wir Triangulierungsnöte, spüren wir die Defizite der vaterlosen Gesellschaft, übrigens ein Begriff, der schon 1919 von dem Psychoanalytiker Paul Federn geprägt wurde. Heute wenden sich die vaterlosen Kinder an Ersatzväter in Kino, Fernsehen und Computerspiel, und die alleinerziehenden Mütter bekommen Schuldgefühle.

Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen der Anfälligkeit für Depression und Vaterlosigkeit. In Schweden, wo man angeblich am besten für Alleinerziehende sorgt und die Prozentzahl der alleinerziehenden Mütter auch erheblich höher liegt (mehr als die Hälfte aller Kinder werden außerhalb einer Ehe geboren), ist im Vergleich zu Deutschland die Anfälligkeit für Drogen viermal so groß, die Prozentzahl der Selbstmorde doppelt so hoch, und ebenfalls doppelt so hoch ist die Prozentzahl an psychischen Krankheiten. Hier rollt – auch in Deutschland – eine Lawine heran. Denn die Zahl der alleinerziehenden Mütter ist in den letzten Jahren stetig gestiegen; insgesamt sind es heute 2,6 Millionen. Noch schneller stieg die Zahl der alleinerziehenden Väter: 1991 waren es 204.000, heute sind es fast doppelt so viele mit Kindern unter 18 Jahren.

Also sollte man die Dreier-Beziehung wieder ernster nehmen. Der Kinder- und Jugendtherapeut Horst Schetelig beschreibt die „Triangulation“ so: „Die Verschiedenheit und nicht die Gleichheit von Vater und Mutter erleichtert die Ich-Findung und Identifikation mit dem eigenen Geschlecht. Denn sowohl der kleine Sohn als auch die kleine Tochter identifizieren sich bereits im Kleinkindalter mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Darüber hinaus erhält der gegengeschlechtliche Elternteil Vorbildfunktion für die spätere Partnerwahl.“

Die Präsenz des Vaters ist heute um so wichtiger, als die Medien, insbesondere das Fernsehen, die Identifikations- und Vorbildfunktion erheblich erschweren. Fast immer sieht man die Männer als monströs kämpfende Helden oder als Versager, als Liebhaber oder als Verbrecher, höchst selten aber als liebende Väter. Hinzu kommt, daß es auch im Kindergarten und in der Grundschule kaum männliche Erzieher gibt. In den ersten zehn Jahren haben die Kinder es fast ausschließlich mit Frauen zu tun, als Mutter, Erzieherin, Lehrerin (JF 39/07). Da sollten die Väter wenigstens in der Familie präsent sein.

Die Familienforschung im Ausland hat die Väter entdeckt. Die Entwicklung vaterloser oder ihrem Vater entfremdeter Kinder ist in Deutschland dagegen immer noch kaum Gegenstand der Forschung. Den fast hundert Lehrstühlen für Frauenforschung steht kein einziger für Väterforschung gegenüber. In der Antwort auf eine kleine Anfrage an die Bundesregierung zum Stand der Bindungsforschung wurden im vergangenen Jahr die Forschungsarbeiten zu diesem Thema aufgelistet: von den Vätern keine Spur. Väter laufen in der Politik de facto immer noch als Bezugspersonen am Rande mit. In Deutschland haben wir hier ein statistisches Loch. Bei jugendlichen Tatverdächtigen wird die Vaterpräsenz nicht erfaßt. Die Psychologie aber weiß, daß der „Vaterfaktor“ bei der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes nachhaltiger zu Buche schlägt als bisher angenommen.

„Kinder geraten nicht zwangsläufig auf die schiefe Bahn, nur weil sie vaterlos sind“, sagt der Psychologe Henry Biller, der das Buch „The Father Factor“ (1994) geschrieben hat, „aber zwei Eltern stellen einen deutlichen Vorteil dar“. Kinder mit Vätern hätten mehr Selbstvertrauen in einer Gemeinschaft, seien insgesamt unabhängiger und verantwortungsvoller und würden schneller mit neuen Situationen fertig. Auch erzielten sie bessere Ergebnisse bei Intelligenz- und Geschicklichkeitstests. Das liege daran, daß Mann und Frau unterschiedlich mit Kindern umgingen und das Kind so mit einer umfangreicheren Palette an Erfahrungen konfrontiert werde.

Wenn der Vater fehlt, ist die emotionale Stabilität der einzelnen Familienmitglieder und der Familie selbst geschwächt oder ungeschützt. Er ist eben integrativer oder konstituierender Teil der Familie. Die Politik müßte also dafür Sorge tragen, daß der Kern dieser emotionalen Stabilität gestärkt wird, die für eine gesunde Entwicklung des Kindes grundlegend ist, wie man aus der Hirnforschung mittlerweile vielfach abgesichert weiß.

Hier kommt das Proprium, das Wesentliche, die Urfunktion des Vaters zum Vorschein: Er schützt. Er garantiert die Konstante der personalen Beziehung. Er ist Garant des familiären Konsenses. Vieles kann er mit der Mutter oder mit den Kindern oder mit allen gemeinsam tun: als Rückversicherung für das Miteinander-Auskommen, als Schutz für die Intimität der Familie, als Mantel über Verfehlungen, der die Blößen der Person bedeckt. Eines ist ihm eigen: Der Vater ist der Garant des konsensualen Lebens in der Familie, er ist der Wächter der Solidarität.

Konsens setzt Kommunikation voraus. Das bedeutet nicht nur Reden. Mehr noch gehört dazu das Zuhören. Die Klassiker ordneten die Solertia, die Tugend des Zuhören-Könnens, zur Kardinaltugend der Klugheit. Der Sachverhalt ist eigentlich selbstverständlich: Wer nicht zuhört, manchmal sogar die Zwischentöne heraushört, der kann nicht nur die rationalen und emotionalen Tatbestände eines Argumentes nicht wirklich wahrnehmen, er wird auch zum „verbretterten“ Oberlehrer, mit dem es sich nicht lohnt zu diskutieren. Das Hinhören ist wie die Aufnahme von Sauerstoff: erst Luft holen, dann reden.

Der permanente Austausch im Beziehungsprozeß in der Familie, lehrt der spanische Familienforscher und Direktor des Instituts für Familienwissenschaften der Universität Navarra, Pedro Juan Viladrich, muß beschützt und garantiert werden. Das sei vor allem die Aufgabe des Ehemannes und Vaters. Deshalb gelte er noch weithin als „Familienoberhaupt“. Viladrich erklärt: „Oberhaupt bedeutet keineswegs eine Art von Herrschaft des männlichen Elementes aufgrund einer körperlichen Überlegenheit. Es bedeutet, daß es jemanden geben muß, der die gegenseitige Achtung, die gleichberechtigte und wahre Teilnahme am Meinungsaustausch zwischen Mann und Frau und in der Familie als Dienst an der gemeinsamen Lebensgestaltung wahrnimmt, deckt und rückversichert. Diese Aufgabe kommt in erster Linie dem Mann und Vater zu. Er trägt hier besondere Verantwortung für die Eintracht in der Familie, für den Schutz der liebevollen Atmosphäre. Das heißt es, ein Mann zu sein.“

Wächter der Solidarität, Garant des Konsenses: Das ist der spezifische Beitrag des Vaters zur gemeinsamen Lebensgestaltung, beim Vorbildsein für die Partnerwahl, beim Austarieren des Gefühlshaushalts. Wunderbar hat das der Psychotherapeut und mehrfache Buchautor Wolfgang Bergmann in seinem Buch „Disziplin ohne Angst“ so formuliert: „Kinder brauchen die Mütter und ihre Bindungsinnigkeit, um sich den Vätern vertrauensvoll zuzuwenden, und sie benötigen die Geborgenheit beim Vater, um befreit zum Mütterlichen zurückzukehren oder anders: Die Vermischung des Männlichen und Weiblichen ist eine seelische und körperliche Basis für ein glückliches Kinderleben.“ Diese Komplementarität schafft emotionale Stabilität.

Und die Autorität? Alexander Mitscherlich hat die Spannung zwischen Erziehungsfunktion und Arbeitswelt der Väter psychologisch untersucht. In seinem Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ (1963) spricht er von der „Entleerung der Autorität“. Der klassenlose Massenmensch habe den Vater sowohl als Vorbild wie als Quelle der Autorität verworfen. Es fehle „die verbindliche, anschauliche väterliche Unterweisung im tätigen Leben“, die „verläßliche Tradition“ entfalle, weshalb man sich mehr am Verhalten der Altersgenossen orientiere. „Die peer group wird zur Richtschnur des Verhaltens.“ Das habe gravierende Folgen für den Strukturaufbau der Gesellschaft. Denn die kommt nicht ohne Autoritäten aus. Es müssen aber Autoritäten sein, die dienen und nicht herrschen.

Die Anerkennung von Autoritäten fängt in der Familie an. Auch deshalb gilt der Kirche „die Familie als Kern aller Sozialordnung“ (Papst Benedikt XVI., „Jesus von Nazareth“, 2007). Die Familie – also Vater, Mutter, Kinder – ist die Quelle der dienenden Autorität, des Gemeinsinns und der Solidarität. Das Kind braucht beide Eltern. Deshalb kann es für den Vater vielleicht Ersatzspieler und Ersatzmänner geben – das Original, der Stammspieler, bleibt die natürlichste und sicherste Variante. Er sollte in Forschung, Arbeitswelt und Leben nicht weiter auf die lange Bank gesetzt werden.

 

Jürgen Liminski, Jahrgang 1950, ist Publizist und Moderator beim Deutschlandfunk. Der Diplom-Politologe und verheiratete Vater von zehn Kindern widmet sich besonders der Gesellschafts- und Familienpolitik. Als Fachmann und Autor schreibt er Gastbeiträge für verschiedene Zeitungen, darunter die JUNGE FREIHEIT, und ist immer wieder Gast in Talksendungen. Liminski studierte Journalismus und Informationswissenschaften an der katholischen Universität von Navarra sowie Geschichte und Politische Wissenschaften in Freiburg und Straßburg. Danach war er Ressortleiter für Außenpolitik beim „Rheinischen Merkur“ und der „Welt“. Derzeit ist er Geschäftsführer des Instituts für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e. V.

Foto: Geborgen beim Vater: Die Verschiedenheit und nicht die Gleichheit von Vater und Mutter erleichtert die Ich-Findung und Identifikation mit dem eigenen Geschlecht

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