© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/09 20. November 2009

Eine verschleierte Revolution
Wirtschaftspolitik: Die Krisenretter beschwören chinesische Verhältnisse herauf / Schumpeters Warnungen
Wilhelm Hankel

Die sogenannten fünf Wirtschaftsweisen erwarten in ihrem neuen Jahresgutachten für 2010 ein Wirtschaftswachstum von 1,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im laufenden Jahr werde die Wirtschaft in Deutschland allerdings noch um fünf Prozent schrumpfen, so der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Im März war der Deutsche Aktienindex (DAX) krisenbedingt auf 3.890 Punkte gefallen. Im November stand er schon wieder bei über 5.600 Punkten.

Wer auf dem Tiefpunkt entsprechende Aktien kaufte, konnte innerhalb weniger Monate etwa 40 Prozent Gewinn verbuchen. Der US-Aktienindex Dow Jones Industrial Average, der im Frühjahr auf 7.775 Punkte gefallen war, lag vergangene Woche wieder über 10.290 – das entspricht einem Gewinn von mehr als 30 Prozent. Daß die Zahl der Arbeitslosen trotz „Kurzarbeiter“-Kosmetik auf jahresdurchschnittlich knapp vier Millionen steigen soll, scheint die aufkommende Hochstimmung nicht zu trüben.

Doch wie enden Krisen wirklich? Regierungschefs, die EU-Kommission, ihnen ergebene Medien und die Mehrzahl der Experten werden nicht müde, angesichts solcher Zahlen die frohe Botschaft vom nahen Ende der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise zu verkünden. Es ist dieselbe Krise, die sie noch vor wenigen Monaten als die schwerste der kapitalistischen Zeitrechnung bezeichnet haben. Ein Rückblick auf frühere Krisen kann jedoch aufschlußreich sein.

Die letzte Krise vergleichbaren Ausmaßes brach vor 80 Jahren nach dem „Schwarzen Freitag“ an der New Yorker Börse aus. Doch die damalige Wirtschaftskrise endete eigentlich nie. Nach zehn Jahren Weltdepression – nachdem sie zuvor das Weltwährungssystem (den Goldstandard) zum Einsturz gebracht und den Welthandel auf weniger als ein Drittel seines Vorkrisenumfangs hatte zusammenschrumpfen lassen – ging die 1929 begonnene Krise nahtlos in den Zweiten Weltkrieg über.

Nur Deutschenhasser und historische Mythenerzähler können ihn einseitig als Reaktion des Westens auf die aggressive Expansionspolitik des Deutschen Reiches und des Japanischen Kaiserreiches erklären. Zehn Jahre Währungs- und Handelskriege der führenden Industrienationen unter- und gegeneinander hatten das notwendige Klima geschaffen, in dem ein solcher Kurzschluß erst möglich wurde. Und heute? Gottlob droht kein zweiter Hitler, Japan ist pazifiziert. Auch liegt kein Krieg der Großmächte (USA, China) gegeneinander – der einzigen, die ihn führen könnten – in der Luft. Dafür aber drohen die verheerenden Folgen eines Krisenmanagements „der raschen Hand und des kurzen Verstandes“ (Friedrich Nietzsche). Selbst die EU-Kommission stellt beklommen fest, daß ab 2014 nur noch zwei von 27 EU-Staaten die festgelegten Obergrenzen der Staatsverschuldung einhalten dürften: Schweden und Finnland; selbst Musterknabe Deutschland wird dann statt mit 60 Prozent Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) mit annähernd 100 Prozent in der Kreide stehen (JF 44/09).

Das aktuelle Wirtschaftsweisen-Gutachten prognostiziert schon für 2010 einen deutschen Schuldenstand von 75,3 Prozent des BIP. Andere EU-Länder wie Irland oder Großbritannien werden in fünf Jahren sogar mit 200 Prozent und mehr verschuldet sein – Werte, die Japan heute schon erreicht. Noch ärger ist, daß die Europäische Zentralbank (EZB) die Politik der Zerrüttung des Staatskredits nach Kräften fördert: seit Einführung des Euro durch die permanente Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite der alten Inflationsländer von Irland über Portugal, Spanien, Italien, Griechenland, neuerdings auch wieder Frankreich.

Und jetzt, in der Krise, setzt die EZB durch den versteckten Ankauf von deren Schrottanleihen über ihre „Liquiditätshilfen“ für den verzockten Banksektor noch eine weitere Last obendrauf. Der frühere deutsche Finanzminister Theo Waigel (CSU), der die EZB einst als „zweite Deutsche Bundesbank“ vorstellte, hat allen Grund, sich bei seinen damaligen Kritikern zu entschuldigen.

Läßt sich die Krise wirklich mit ruinierten Staatsfinanzen und einem inflationierten Euro beenden? Schwerlich. Statt eines Endes der Krise zeichnet sich das Ende der Sozialen Marktwirtschaft ab. Diese Entwicklung kommt von zwei Seiten auf uns zu: dem neuen „Volkseigentum“ an den geretteten Großbanken und Großunternehmen und der Verabschiedung von Wettbewerb und Mittelstand. Den Krisentod sterben nur kleine, „nicht-systemrelevante“ Akteure – jene, die man gleichlautend in den Analysen der Ökonomen wie den Sonntagsreden der Politiker sonst als das „Salz“ der Marktwirtschaft herausstellte.

Wie diese Krise enden wird, hat vor 70 Jahren (der Zweite Weltkrieg hatte gerade begonnen) der neben dem Briten John Maynard Keynes zweite große Weltökonom des 20. Jahrhunderts ebenso exakt wie düster vorausgesagt: Joseph Alois Schumpeter. Es werde einen neuen Kampf der Giganten geben, prognostizierte der österreichische Nationalökonom. Die von den Staaten geretteten Monopol-Unternehmen würden sich gegen ihre Retter wenden und diesen nur noch die Wahl lassen, entweder geschluckt zu werden oder diese auch noch zu schlucken. Am Ende der Krise stünde ein ganz neuer Sozialismus, der mit der Marx’schen Analyse und Heilslehre nicht das Geringste gemein habe: ein Sozialismus, in dem die Unterschiede zwischen Staat und Wirtschaft nicht mehr bestehen. Marktwirtschaft, Wettbewerb und das Privateigentum an den Produktionsmitteln – das alles sei dann, wenn man es nicht rechtzeitig schütze, passé: überholt, Vergangenheit und Geschichte.

Ein halbes Jahrhundert lang: erst im heißen, dann im Kalten Krieg hat das westliche Führungspersonal (das akademische wie das politische) Schumpeters Analyse und Warnung verdrängt – auch jetzt in der Krise wieder. Doch die Volksrepublik China führt dem Westen tagtäglich vor, was auch auf ihn nach der Krise wartet: eine autoritäre Wirtschaftslenkung. Man kann sich aussuchen, wie man sie etikettiert: als „Stamokap“ (staatlichen Monopol-Kapitalismus) oder „Stamokom“ (staatlichen Monopol-Kommunismus).

Irrt der Wähler, der eine schwarz-gelbe Regierung beauftragt, den Zustand herbeizuführen, vor dem der politische Sozialismus davonläuft? Oder ist es die politische Klasse, die nicht wahrnehmen will, worauf ihre Politik letztlich hinaus läuft: auf Verhältnisse wie in China! Die Krise zeigt einmal mehr, was sie in Wahrheit ist: eine verschleierte Revolution. Nach ihr sieht die Welt anders aus als zuvor. Doch die Frage ist: ob besser?

 

Prof. Dr. Wilhelm Hankel leitete unter Karl Schiller die Währungsabteilung des Wirtschaftsministeriums und war Chef der Bank- und Versicherungsaufsicht. Er veröffentlichte 2008 das Buch „Die Euro-Lüge und andere volkswirtschaftliche Märchen“.

Foto: Reichstag vor Mao-Bildnis: Staatlicher Monopol-Kapitalismus oder staatlicher Monopol-Kommunismus

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