© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/09 20. November 2009

„Wir verhungern geistig“
Ökologie: Der Umwelt- und Friedensaktivist Hans-Peter Dürr fordert ein „neues Denken“ – sonst droht das Ende der Menschheit
Fabian Schmidt-Ahmad

Zum einen der renommierte Physiker und frühere Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik (MPP/Werner-Heisenberg-Institut), zum anderen der weltbekannte Friedensaktivist und Umweltschützer – all diese scheinbaren Gegensätzlichkeiten vereinigt Hans-Peter Dürr in seinem Leben. Gegensätzlichkeiten, die Dürr mit einem weltanschaulichen Brückenschlag zu einer eigenen und eigenwilligen Philosophie verbindet, die sich deutlich von den Theoriegebäuden seiner Wissenschaftskollegen unterscheidet.

Eine kurze Einführung in das Denken Dürrs, der kürzlich seinen 80. Geburtstag beging, legt nun der Oekom Verlag vor. Gleich mit dem ersten Satz wird der Leser in das unmittelbare Geschehen eingeführt. Der Kriegsausbruch zwischen Deutschland und Polen wird für den zehnjährigen Knaben und späteren Pazifisten paradoxerweise der erste Tag, an dem er sich sozial engagiert. In knappen, aber doch scharfen Bildern werden weitere Lebensstationen skizziert.

Der Weg zur Berkeley-Universität, dem damaligen Zentrum der Physik, und die Rückkehr ins zerstörte Deutschland; die Assistenz beim legendären Werner Heisenberg, den Dürr schon als Schüler bewunderte und dessen Institutsnachfolger er werden wird; die Begegnungen mit zeitgeschichtlichen Gestalten wie Franz Josef Strauß und Willy Brandt lassen den Abschnitt auch zu einem Porträt jener Zeit werden. Dabei wird rasch Dürrs Talent offenbar, sich mit wenigen Sätzen dem Allgemein-Menschlichen jenseits der Ideologie zu nähern.

„Ich mußte die Toten begraben, die durch eure Bomben verbrannt und getötet wurden und jetzt kommt ihr her, habt genug zu essen, während wir hungern, und erzählt uns, wer und was ein guter Mensch sei.“ Nüchtern beschreibt der Angehörige der Flakhelfer-Generation seine erste Reaktion auf die deutsche Umerziehung, die heute nur noch von wenigen bewußt wahrgenommen wird. Mit Sensibilität dagegen nähert sich Dürr seinem fast zwei Jahrzehnte älteren Doktorvater Edward Teller, gleichwohl dieser als „Vater der Wasserstoffbombe“ und späterer Chefarchitekt des (letztlich gescheiterten) „Star Wars“-Programms der USA ein Gegner des Pazifisten war.

Wesentlich für Dürrs Philosophie ist die Erkenntnis, daß mit Heisenbergs Quantenphysik das herrschende Weltbild eigentlich widerlegt worden ist. Bewegen wir uns in der Welt, so betrachten wir diese für gewöhnlich als mechanistisch zu beschreibende Materie. Dieses Denken ist in Wirklichkeit aber noch der Physik des 19. Jahrhunderts verhaftet. Tatsächlich wurde dieser Charakter der Materie durch die Quantenphysik überwunden. Materie, so legt Dürr dar, ist letztlich nur Geist.

Dies hat erhebliche Folgen für unser Selbstverständnis, verwischt sich hier doch der scharfe Gegensatz zwischen Ich und Welt, Innen- und Außenleben. „Mensch und Natur sind … prinzipiell nicht getrennt“, stellt der Heisenberg-Schüler fest. Es sind vielmehr nur wir selbst, die „unsere doppelte Beziehung zur Wirklichkeit“ widerspiegeln. Dies geschieht sowohl durch „das die Welt beobachtende helle Ich-Bewußtsein“ des Forschers mit seinem begrifflichen Denken als auch durch den mittels „Meditation unmittelbar zum eigentlichen Wesen“ vordringen wollenden Mystiker. Mit dieser Anschauung nähert sich Dürr überraschenderweise wieder stark der Philosophie der Deutschen Klassik an. Kurios insofern, da doch die in Deutschland aufkommenden Naturwissenschaften und die mit ihnen verbundene Kommerzialisierung ganz wesentlich dazu beitrugen, diese Epoche zu beenden. Nun, am Kulminationspunkt dieser Physik entsteht jetzt eine Naturbetrachtung, die den Geist als schaffende Kraft nicht mehr länger leugnet, sondern als ihre Grundlage setzt und damit der Anschauung Goethes wieder sehr ähnlich wird.

Die Realität einer geistigen Welt? Die Liebe als lebendige, kosmische Kraft? Zweifelsohne Thesen, welche Dürrs Forscherkollegen mit Befremden erfüllen. Bezeichnenderweise ist Dürr daher Träger des Alternativen Nobelpreises (1987). Als der Physiker Józef Rotblat 1995 – stellvertretend für die Pugwash-Konferenzen – den Friedensnobelpreis erhielt, wurde auch Dürr mitgeehrt. Seinen wissenschaftlichen Erfolgen blieben solche höchsten Auszeichnungen verwehrt. Ein „neues Denken“ bis hinein in die Sprache ist aber nach Dürr unbedingt notwendig, da sonst die Menschheit an ihren Endpunkt gelangt wäre: „Wir verhungern geistig.“

Hans-Peter Dürr: Warum es ums Ganze geht. Neues Denken für eine Welt im Umbruch. Oekom Verlag, München 2009, gebunden mit Schutzumschlag, 192 Seiten, 19,90 Euro

Foto: Dürr-Buch: Den Geist als schaffende Kraft erkennen?

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