© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/09 20. November 2009

Schattenseiten der Psyche
Liebe ist für keinen da: Rammsteins neues Album ist indiziert worden / Konzerttournee durch Europa
Bernd Roloff

Wer wartet mit Besonnenheit …“, schallt es in den Saal – „... der wird belohnt zur rechten Zeit“, ruft das Publikum zurück. Es ist exakt 21.05 Uhr. Tausende fiebern an diesem Sonntagabend im Pavilhão Atlântico in Lissabon dem Auftritt von Rammstein entgegen, der erfolgreichsten deutschen Heavy-Metal-Band.

Hier in der portugiesischen Hauptstadt beginnt an diesem 8. November die Europatournee der sechs Musiker aus Berlin. Die Tour führt durch 27 Länder, die ersten Auftritte in Deutschland finden kommenden Montag (München) und Dienstag (Leipzig) statt, das Kartenkontingent war binnen Tagen ausverkauft.

Welche Lieder Rammstein allerdings in Deutschland spielen wird, kann derzeit nur spekuliert werden, denn schon das Eröffnungsstück des Konzerts in Lissabon stammte von dem in der vorigen Woche indizierten neuen Album „Liebe ist für alle da“ (Universal). Wie Rammstein es geschafft hat, in Deutschland auf den Index zu kommen, bleibt jedenfalls in Ansehung der Show unklar.

In seinem Kern bleibt das Werk von Rammstein für Beamte des Bundesfamilienministeriums sicherlich schwer zugänglich. Seit 1994 begärtnert die Gruppe mit Doppelspulentonabnehmern und mehrdeutiger Lyrik die Schattenseiten der menschlichen Psyche.

So steigt Rammstein auf „Liebe ist für alle da“ mit der Bearbeitung des Fritzl-Inzest-Dramas („Wiener Blut“) in sehr tiefe dunkle Abgründe. Bei diesem Lied sowie bei „Ich tu dir weh“ kann einem der Jargon, mit dem die Täterperspektive besungen wird, schon mal etwas widerlich vorkommen – sofern man die Bühnenperformance dazu nicht gesehen hat.

Rammstein hat Interpretationen seiner Stücke in ständiger Übung weder bestätigt noch dementiert; es gibt also kein konfektioniertes Rammstein-Verständnis. So könnte der Auftritt eines der beiden Gitarristen in Lissabon in einem Vintage-Militär-Mantel mit gleich zwei roten Armbinden und einer bedenklich geradlinigen Scheitelung des pomadigen Haupthaars auch vielleicht einen Kommissär aus Christian Krachts Roman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ darstellen, folglich Antimilitarismus symbolisieren.

Gewaltverherrlichung sieht anders aus

Insofern sei den Rammstein-Anwälten geraten, den deutschen Behördenvertretern Dienstreisen ins Ausland zu spendieren. Bühnenshow und Liedgut sind ein Gesamtwerk, das der eigenständigen Prüfung bedarf. Danach müßte die Indizierung wieder vom Tisch sein. „Ich tu dir weh“ wird spätestens dann zur Sado-Maso-Satire, als Sänger Till Lindemann aus einer Milchkanne einen Funkenschwall auf den Keyboarder (Christian Lorenz) herabregnen läßt, der vorher von ihm in einer Metallbadewanne versenkt wurde. Gewaltverherrlichung sieht anders aus.

Bei dem Lied „Pussy“, der ersten Auskopplung aus dem neuen Album, erhoben sich moralische Zeigefinger, weil die Gruppe hierfür ein Hardcore-Video produzieren ließ. Wer nun Sänger Lindemann mit sechs pinkfarbenen Gummidildos aufgepflanzt auf dem Mikrofonständer sieht, „Mercedes-Benz und Autobahn, schönes Fräulein, Lust auf mehr, Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr“ singend, wird zugestehen müssen, daß es sich hier um sarkastische Kritik am Sextourismus handelt. Kurz: Eingebettet in die Show werden die Vorwürfe gegen einzelne Textinhalte substanzlos.

Musikalisch bietet Rammstein ein archaisches Sound-Gewitter, wahlweise getrieben von der präzisen Doublebass-Spielweise des Schlagzeugers (Christoph Schneider) oder von Unisono-Riffs der Gitarristen. Die Performance wird durch rhythmussynchrone Pyrotechnik im gesamten Bühnenraum unterstützt. Dazu gibt es jede Menge Bühnennebel, der mit Riesenventilatoren dekorativ verwirbelt wird, allerneueste LED-Technik, Schaum und Konfetti, wobei die Effekte keinen Selbstzweck haben, sondern akzentuieren.

Als Zwischenspiel in der Show gibt Sänger Lindemann diesmal den Chansonnier. In der Mitte des im übrigen dunklen Bühnenraums wird eine 100-Watt-Funzel angeschaltet, der Bassist (Oliver Riedel) kniet sich mit einer Akustik-Gitarre neben Lindemann, es wird still im Saal. „Im Lichtkleid kam sie auf mich zu“, beginnt Lindemann die Ballade „Frühling in Paris“, und es bleibt kein Auge trocken, wenn er in sehr deutschem französisch ( „je ne regrrrrrette rrrien“ ) besingt, daß er es nicht bereut hat, seine Unschuld (als Sextourist?) bei einer Dame des Gewerbes („die Lippen oft verkauft und weich“) verloren zu haben. Im Laufe der Tour wird Lindemann in der letzten Strophe die Stadt an der Seine gegen diejenige auswechseln, in der die Gruppe jeweils gastiert – so geschehen in Lissabon.

Jede Menge Bühnennebel, Schaum und Konfetti

Es blieb in fast zwei Stunden Konzertdauer die einzige Geste, mit der die Gruppe Kontakt zu ihrem Publikum suchte. Es gibt keine Begrüßung, noch nicht einmal eine rhetorische Frage nach dem Befinden der aus ganz Europa zum Auftaktkonzert angereisten Fans. Statt dessen steht Lindemann häufig wie ein Volkspolizist mit auf dem Rücken verschränkten Armen da und besieht sich das Treiben in den ersten Reihen. Der Rest der Truppe ist mit sich selbst und den Instrumenten beschäftigt beziehungsweise damit, nicht von Flammenwerfern und Sprengkörpern getroffen zu werden. Wenn die Gruppe ein Defizit hat, dann ist es fehlende Spontanität und Lässigkeit inmitten all der musikalischen Bedeutungsschwere.  Hierfür müßte ein Indizierungstatbestand aber erst geschaffen werden.

Die Tourdaten von Rammstein im Internet: www.rammstein.de/Tour.html

Foto: Rammstein: Bühnenshow und Liedgut des Berliner Sextetts sind ein Gesamtwerk, das der eigenständigen Prüfung bedarf

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