© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/09 04. Dezember 2009

Stasi-Sumpf in Brandenburg
Absturz des roten Adlers
Dieter Stein

Viele, die Antrag auf Einsicht in ihre Akte bei der Stasi-Unterlagenbehörde gestellt haben, kennen das Phänomen. Falls sie nicht ein prominenter Fall waren oder es von vornherein deutliche Anzeichen für eine Bespitzelung gab, dann wollten sie es zuerst nicht für möglich halten, daß überhaupt berichtet wurde. Wenn in einem der Lesesäle eine Mitarbeiterin der Behörde dann das muffige Bündel mit abgegriffenen Akten präsentiert, können sie es wiederum nicht für möglich halten, wer denn über sie berichtet haben soll.

Kalter Schweiß tritt dem Leser auf die Stirn, wenn er mit zitternden Fingern Blatt um Blatt umwendet und erkennt, wer dort mit Akribie aufgeschrieben hat, was man wann wo gesagt, getan oder zu Papier gebracht hat. Mit einem Mal bricht eine vertraute Welt zusammen. Hinter dem Antlitz eines Menschen tritt plötzlich ein nicht gekanntes zweites Gesicht hervor, das nur Verstörung hinterläßt.

Warum hat sich der Freund, der einen verriet, nie offenbart? Warum nicht die Seele befreit, bevor die Akten sprechen mußten? Man hatte doch sogar ihm gegenüber davon gesprochen, einen Antrag auf Einsicht in die Akten stellen zu wollen ... Es ist dem Zwangssystem der DDR gelungen, Hunderttausenden das Rückgrat zu brechen: Von Verlockungen bis zur Erpressung reichten die Mittel, um jemanden zum Inoffiziellen Mitarbeiter zu machen. Viele ehemalige IMs begründen ihr Schweigen damit, sie fühlten sich auch nach dem Untergang der DDR noch in einer Loyalitätspflicht gegenüber ihrem letzten Führungsoffizier, gegenüber der untergegangenen Ordnung. Es kostet offensichtlich eine ungeheure, übermenschliche  Anstrengung, sich einzugestehen, wenn das Leben auf einer großen Lüge aufgebaut war – eine Kraft zur Selbsterkenntnis, die ohnehin wenige Menschen aufzubringen scheinen.

Die in Brandenburg geschlossene Koalition zwischen SPD und Linkspartei offenbart jetzt in dramatischer Weise, wie tief die aus der für das DDR-Unrechtssystem verantwortlichen SED hervorgegangene „Linke“ immer noch von Stasi-Leuten durchsetzt ist. Noch so viele oberflächliche Waschgänge haben es nicht vermocht, die Partei von den alten Kadern zu befreien: Nach derzeitigem Stand sind sechs von 26 Landtagsabgeordneten der Linkspartei ehemalige Stasi-Mitarbeiter, also jeder vierte! Die Landtagsvizepräsidentin der Linkspartei, Gerlinde Stobrawa, mußte zurücktreten, Renate Adolph, die für die HVA hauptamtlich arbeitete, legte ihr Mandat nieder.

Im Lichte dieser tiefen und ungelösten Verstrickung wirkt die moralische Überheblichkeit der Linkspartei-Führung, mit der sie sich mit Hilfe des Antifaschismus als Sieger der Geschichte exkulpieren und geradezu als „Opfer der Einheit“ darstellen will, obszön und bizarr. Und beschämend, welches öffentliche Schattendasein auch 20 Jahre nach dem Mauerfall Dissidenten der DDR spielen und wie schäbig Opfer abgefunden wurden. Ministerpräsident Platzeck von der SPD verrät die Oppositionsbewegung, zu der er selbst einmal gehörte. Der rote Adler versinkt im märkischen Treibsand.

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