© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/09 11. Dezember 2009

Angst vor dem Volk
Die Schweiz, Minarette und das Plebiszit: Das politische Klima ändert sich
Karlheinz Weissmann

Die Debatte um den Schweizer Volksentscheid zum Minarettverbot kommt nicht zur Ruhe. Auch das ist ein Indiz für jene unerwartete, aber spürbar werdende Änderung des politischen Klimas. Denn eigentlich stand zu erwarten, daß die Volksschelte nach dem Plebiszit genügen würde, um jede öffentliche Erwägung zu Recht oder Unrecht der Eidgenossen im Keim zu ersticken.

Tatsächlich formierte sich die Phalanx der Empörten in erwartbarer Weise: die Linken, die enttäuscht sind über den unaufgeklärten demos, die Liberalen, die ihre Gewinne samt dem Ruf der Toleranz gefährdet sehen, und die Islam-Lobby, die sich ungeliebt fühlt.

Aber es gab auch und von Anfang an Gegenstimmen – nicht nur in der Schweiz, wo man auf die ehrwürdige Tradition der nationalen Demokratie verwies, sondern auch in Deutschland, wo sich sogar Etablierte entschlossen, auf die skandalöse Diskrepanz von öffentlicher und veröffentlichter Meinung in bezug auf Einwanderung, Integration und die Rolle des Islam hinzuweisen.

Natürlich ging man nicht so weit, ein Prozedere wie in der Schweiz zu fordern, aber das hat vor allem mit bürgerlicher Ängstlichkeit zu tun, nicht mit politischer Überlegung im eigentlichen Sinn. Man will den Konsens von ’49 wahren, demgemäß das Volk in unserer Demokratie möglichst wenig zu sagen haben soll, weil es in der Weimarer Republik Hitler an die Macht gebracht hat.

Das Argument wird neuerdings bereichert um den Verweis auf ähnlich unvernünftige Haltungen von Dänen oder Iren, die vor den Augen ihrer Obrigkeiten versagten. Stichhaltig ist nichts davon, im Grunde geht es nur um Schutzbehauptungen der politisch-medialen Klasse, die ihre Macht nicht in Frage gestellt sehen möchte. Und unter den heutigen Umständen wäre die nur in Frage zu stellen durch den Appell an das Volk. Nicht weil man das per se für „gut“ oder „weise“ oder „tugendhaft“ hält, sondern weil es legitim ist, alle zu befragen – oder mit Mehrheit entscheiden zu lassen –, was alle betrifft.

 Dieser Zusammenhang gehört zum Kern jeder realistischen Demokratieauffassung und erklärt die Zähigkeit des demokratischen Gedankens im Bestand der europäischen Überlieferung: von der antiken Polis über die germanische Königswahl, das isländische Allthing bis zu den modernen Verfassungsordnungen.

Dagegen stehen die orientalische Despotie (der man deutscherseits auch den Absolutismus französischer Prägung zugezählt hat) oder rein funktionalistische Ordnungssysteme. Dagegen stehen aber auch die linken Überforderungen der Demokratie, die zwangsläufig scheitern müssen oder sowieso nur die ersehnte Handhabe für eine „Erziehungsdiktatur“ (Herbert Marcuse) liefern sollen.

Wenn man diesen Zusammenhang in den Blick nimmt, ist besser zu verstehen, warum es eine „Tory-Demokratie“ gab und eine so massive Bereitschaft der Mitte und der Linken, bei Gelegenheit die Demokratie beiseite zu schieben, weil sie sich als störend erweist.

Das allgemeine Wahlrecht wurde eben in Großbritannien von dem Konservativen Disraeli, in Deutschland von dem Konservativen Bismarck eingeführt, Lincoln gewann die Präsidentschaftswahlen mit der Lüge, keinen Krieg gegen die Südstaaten, Franklin D. Roosevelt gewann sie mit der Lüge, keinen Krieg gegen die Deutschen zu führen.

Was Lenin oder die Achtundsechziger unter „Demokratisierung“ verstanden, bedarf keiner Erläuterung, sowenig wie die aktuelle Sympathie unserer Liberalen für die sanfte europäische „Postdemokratie“ (Joseph Joffe). Die konservative Demokratie hat im Zweifel das Argument für sich, daß das Volk vernünftige Erwartungen selten enttäuscht. Das gilt übrigens auch für die Deutschen der Weimarer Republik, die bei Plebisziten immer richtig entschieden: gegen die Fürstenenteignung und gegen eine Politik des Alles oder Nichts in der Frage der Reparationen, gegen Hitler und für Hindenburg.

Allerdings bleibt für die konservative Demokratie vorausgesetzt, daß es so etwas wie Volk noch gibt, also eine Einheit mit dem Bewußtsein solcher Einheit. Denn auch das lehrt die Geschichte, daß eine Bevölkerung, die nur noch als disparater Haufen von Individuen betrachtet werden kann, zur Anarchie oder Tyrannis neigt, aber zur Demokratie unfähig ist.

Da hat die Schweiz es besser, obwohl selbst dort die Zeiten vorbei sind, als ein Demokratieskeptiker wie Alexander Solschenizyn von der Landsgemeinde in Appenzell schwärmte. Da hatten nur die eingesessenen Männer Wahlrecht und traten unter freiem Himmel, den Degen der Vorfahren an der Seite, zusammen, wählten zuerst den angesehenen und beliebten Landammann per Akklamation wieder, lehnten dann aber alle seine Gesetzesvorschläge ab, weil sie neumodisch waren: Erhöhung der Arbeitslosenhilfe und erleichterte Einbürgerung von Zugereisten.

„Eine solche Demokratie“, schrieb Alexander Solschenizyn, „hatte ich noch nie erlebt und hatte auch noch nie von so etwas gehört; so eine Demokratie erheischt Bewunderung ... Sie wurde nicht aus den Ideen der Aufklärung geboren, sondern entsprang den altertümlichen Formen des Zusammenlebens.“

Foto: „Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“

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