© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/09 11. Dezember 2009

Mitläufertum an extrem dünnen Fäden
Der US-Physiker Lee Smolin kritisiert die allzu dogmatischen Verfechter der String-Theorie, die Glauben als Beweiskraft ausmachen
Michael Manns

Die beste Morgengymnastik für einen Forscher ist es, jeden Tag vor dem Frühstück eine Lieblingshypothese über Bord zu werfen. Konrad Lorenz

Im Vatikan hängt das Raffael-Fresko „Die Schule von Athen“. Der große Künstler hat dort die geballte Intelligenz der Antike versammelt: Aristoteles, Platon, Archimedes, Diogenes etc. Der Besucher sieht die hochkarätigen Denker auf den Stufen versammelt beim Nachdenken und Diskutieren über die letzten Prinzipien der Natur. Das Renaissance-Bild von 1512 stimmt auf die neue Naturwissenschaft ein: Fünfzig Jahre später wird Galilei die Bühne betreten. Das Fresko ist aber noch mehr: eine Chiffre für die Wissenschaft selbst. Ernsthaft und seriös soll sie sein, die Forschergemeinde. Denn es geht nur um eins – um die Wahrheit.

Würde der renommierte US-Physiker Lee Smolin vor diesem Bild stehen, würde er sich kopfschüttelnd abwenden. Die Realität sehe anders aus und habe mit dem Ideal leider wenig gemein, würde er verbittert feststellen. Sein Buch „Die Zukunft der Physik“ (der Originaltitel „The Trouble with Physics“ gibt die Intention besser wieder) ist daher eine provokative und flammende Abrechnung mit dem „Mitläufertum“ in der Naturwissenschaft. Konkreter Grund für Smolins Abrechnung: Es geht um die String-Theorie.

Dieses Grundlagen-Modell gilt heute bei vielen Physikern als die aussichtsreichste Quelle für eine „Weltformel“. Sie soll eines Tages die bekannten Gesetze der Quantentheorie und der Allgemeinen Relativitätstheorie zur Quantengravitation vereinen und sämtliche Vorgänge in der Natur – von den kleinsten Elementarteilchen bis hin zu Schwarzen Löchern und dem Urknall – beschreiben.

In dieser Theorie gibt es nur noch eine Art von Elementarteilchen: extrem dünne „Fäden“, die wie angeschlagene Saiten (engl. strings) schwingen. Die postulierte „Größe“ entzieht sich jeder Vorstellungskraft: 1,6 mal 10 hoch minus 35 Meter (das wären 35 Nullen hinter dem Komma). Von der Schwingungsfrequenz hängt es ab, in welchem Gewand ein String erscheint, ob als Quark oder als Elektron.

Allerdings funktioniert die String-Theorie mathematisch nur in neun oder zehn Raumdimensionen. Diese Extradimensionen bemerkt niemand, weil sie nach Vorstellung der Physiker auf winzig kleinen Skalen „aufgerollt“ sind. Man kann dies ansatzweise mit der Betrachtung eines Gartenschlauchs vergleichen: Aus großer Entfernung erscheint er wie eine Linie, also eindimensional. Kommt man näher, so erkennt man seine räumliche Form; aus der Ferne war seine Dicke sozusagen auf die Größe seines Durchmessers aufgerollt.

Das Jahr 1984 gilt als das Jahr der „ersten Superstring-Revolution“. Sehr schnell wurde klar, daß es keine einheitliche Theorie gab, sondern gleich fünf. Die Theorie, die alles vereinheitlichen wollte, war selbst wieder zersplittert und bedurfte der Vereinheitlichung. Die weitere Entwicklung erzeugte weitere neue Modelle: diverse Branen, die M-Theorie. Der mathematische Apparat wurde immer komplizierter und ähnelt einem babylonischen Turm – und die Zahl der stringtheoretischen Varianten überstieg die Zahl der Atome im Universum. Lee Smolin: „Gegenwärtig sprechen die Indizien für rund 10 hoch 500 solcher Theorien“ (– also eine 10 mit 500 Nullen, eine Zahl jenseits jeglicher Vorstellungskraft).

Was aber immer noch fehlt, ist irgendein empirischer Beweis. Dabei hat es an frühen Warnungen nicht gefehlt. Der US-amerikanische Physiker, Nobelpreisträger von 1965 und große alte Mann der modernen Grundlagenphysik, Richard Feynman, kritisierte schon relativ früh die String-Forschung. Mitte der achtziger Jahre sagte er klipp und klar in einem BBC-Interview: „Es gefällt mir überhaupt nicht, daß die String-Theoretiker ihre Ideen überhaupt nicht durch Berechnungen überprüfen.“

Dreißig Jahre Denken, Rechnen, Spekulieren, dreißig Jahre keine experimentellen Nachweise oder erfolgreich überprüften Vorhersagen – an diesen Knackpunkten setzt die String-Kritik von Lee Smolin an: „Sie ist ein bevorzugtes Forschungsfeld, das aggressiv gefördert wird.“ Jahr für Jahr würden etwa fünfzig Doktorarbeiten auf diesem Gebiet geschrieben. Seit Jahrzehnten wird also sehr viel Energie und Zeit investiert. Und das Ergebnis? Niederschmetternd: „Es hat in der theoretischen Teilchenphysik noch keine Arbeit gegeben, die nobelpreisverdächtig gewesen wäre.“ Warum? „Eine Vorbedingung des Preises besagt nämlich, daß der Fortschritt experimentell bestätigt sein muß.“

Smolin entdeckt religiöse Mechanismen in der String-Gemeinde. Wächter der Wahrheit wehren Kritik ab mit dem Argument, ihre Theorie sei „wahr, aber nicht bewiesen“. Oder das oder jenes würde in der String-Gemeinschaft „geglaubt“, und kein vernünftiger Mensch bezweifle die Richtigkeit. Der Wissenschaftler: „Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, daß zumindest einige String-Theoretiker begonnen haben, sich eher als Kreuzfahrer denn als Wissenschaftler zu sehen.“ Smolin konstatiert ein „hohes Maß an Gruppenidentifikation, ähnlich der Identifikation mit einer Religion oder einem politischen Programm“ verbunden mit „Mißachtung und Gleichgültigkeit“ gegenüber abweichenden Ideen.

Läßt man Smolins Kritikpunkte Revue passieren, kann man sich gegen eine aktuelle Analogie aus dem politischen Raum nicht wehren: Dort gibt es ähnliche gruppendynamische Prozesse, die der sprachgewaltige Philosoph Peter Sloterdijk unlängst geißelte. Er sprach von einem Käfig voller Feiglinge, von einem servilen Denken, das „gegen jede Abweichung von den Käfigstandards keifen und hetzen“ müsse. Lee Smolin würde Sloterdijks Analyse goutieren und ihre Übertragung auf den Wissenschaftsprozeß bestimmt nicht als ungehörig empfinden.

Lee Smolin: Die Zukunft der Physik. Probleme der String-Theorie und wie es weitergeht. Deutsche Verlagsanstalt, München 2009, gebunden, 494 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro

Foto: Darstellung der Zusatzdimensionen mit Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten für die String-Theorie: „Wahr, aber nicht bewiesen“

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