© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/09 11. Dezember 2009

Der Feind und seine soziale Funktion
Schmittianer von links
von  Fabian Schmidt-Ahmad

Seitdem der Mensch begonnen hat, über sich und seine Umwelt nachzudenken, so lange sinnt er bereits über die Frage, was eigentlich die Gesellschaft als Triebkraft im Innersten zusammenhält. Nach Aristoteles kann der Mensch seine Natur nur in der selbstgenügsamen Gemeinschaft verwirklichen, „die um des Lebens willen entstanden ist und um des vollkommenen Lebens willen besteht“ (Politik, 1252 b 27–30).

Dieser Anschauung, die von einem positiven Sozialtrieb des Menschen ausgeht, steht eine andere gegenüber, welche die menschliche Natur als antisozial sieht. So schreibt Thomas Hobbes im 13. Kapitel seines „Leviathan“: „Ferner empfinden die Menschen am Zusammenleben kein Vergnügen, sondern im Gegenteil großen Verdruß, wenn es keine Macht gibt, die dazu in der Lage ist, sie alle einzuschüchtern.“

Zwischen den Extremen von Hingabe an bis Einschüchterung durch ein Gemeinwesen bewegt sich unsere empirische Wirklichkeit. Denn es gab bisher schlechterdings noch nie eine Form menschlicher Vergemeinschaftung, die ohne innere Vereinnahmung des einzelnen auskam. Umgekehrt gab es aber auch noch keine Form von Gemeinschaft, die ohne Gesetze, ohne Strafen und Verbote funktionierte. Vielfältig wie das menschliche Leben selbst treten uns so die verschiedenen Gemeinschaften entgegen, jede mit ihrer spezifischen Mischung aus innerem Feuer und äußerer Einbindung.

Eine überaus wichtige Ingredienz wird dabei häufig übersehen: ein Element der sozialen Einbindung, das man hier und heute kaum auszusprechen wagt, welches aber dennoch gerade in Krisenzeiten seine gewaltige Kraft entfaltet; ein Mechanismus, der den Menschen gleichermaßen in seiner Hingabe, wie auch in seiner Furchtsamkeit, anspricht – es ist dies der Feind, der Feind als soziale Funktion.

Als Projektionsfläche dient er dem intensiven Gefühl der Gemeinsamkeit; dem kollektiven Haß, der vom principium individuationis erlöst und im Rausch die Kräfte zum Äußersten anspannt. Der Feind von außen wird durch den inneren Feind ergänzt: das Geheimnisvolle, Unsichtbare, welches macht, daß noch das drückendste Joch über die ängstlichen Nacken gestülpt werden kann.

Archaisch ist diese Funktion, weitaus älter als unser Rechtsverständnis. Mit seiner Fähigkeit, Freund und Feind bestimmen zu können, läßt Carl Schmitt überhaupt erst den politischen Körper entstehen. Die Fähigkeit, zu trennen, ein Innen und ein Außen zu schaffen; Spannungen in der Gemeinschaft abzubauen und nach außen zu leiten – alles dies leistet der Feind als soziale Funktion.

Dabei darf er notwendig nur Bild, nur Leinwand sein, nie ein konkreter Mensch, mit dem man vielleicht Gemeinsamkeiten finden könnte. „Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist“ („Der Begriff des Politischen“). Das Vorurteil, welches nicht überwunden werden möchte, die beginnende Entmenschlichung des Feindes, ist daher zwangsläufig Folge.

Getraut man sich unter diesem Gesichtspunkt die Weltgeschichte zu betrachten, so muß man sich schon fragen: Hätte es Hellas ohne Haß geschafft, das hochstehende Persien herauszufordern? Oder hätte sich England ohne Feindbild gegen die Kulturmacht Frankreich erhoben? Beides aber half dabei, unsere gegenwärtige Zivilisation hervorzubringen.

Von sich behauptet der Kampf gegen Rechts, die leuchtende Minerva der Aufklärung gegen atavistisches Denken ins Feld zu führen. Das würde bedeuten, daß er kein Feindbild setzt, sondern den Gegner differenziert betrachtet. Die Wirklichkeit ist natürlich eine andere.

Und dennoch beschleicht einen Unbehagen, das ahnende Gefühl, daß etwas Unrichtiges die Zeiten überdauert hat. Doch tatsächlich können wir heute ohne diese Funktion Gemeinwesen gründen. Ermöglicht wurde uns dies durch Christus. Durch ihn wurde der Mensch befähigt, soziale Identität bilden zu können, ohne einen anderen als Feind setzen zu müssen. „Liebet eure Feinde“ – lautet Jesu Botschaft (Lukas 6, 27).

Christus als das zentrale Gestirn, das allen Menschen leuchtet, vor dem alle gleich sind und durch den alle miteinander verbunden werden, die eines guten Willens sind: Heute, in unserer gründlich säkularisierten Gesellschaft, will man nichts von solchen Dingen hören. Statt dessen berauscht man sich lieber an Phrasen wie „Toleranz“ und „Weltoffenheit“, die das behagliche Leben im Sinnlichen noch durch das wohlige Gefühl moralischen Anstands verschönern. Daß jedoch diese Phrasen zur äußersten sozialen Entartung führen müssen, so man sich weiterhin einer geistigen Erkenntnis verweigert – diesen Gedanken weist man weit von sich. Unsere Gesellschaft, so scheint es, braucht Christus nicht. Ist dem wirklich so?

Was die Funktion des Feindes betrifft, so glaubt man in Deutschland gründlich Abbrucharbeit geleistet zu haben. Und tatsächlich ist man sehr darum bemüht, was früher als gerade galt, heute krumm zu sehen. Als die europäische Christenheit geboren wurde, war es nicht zuletzt ein über die iberische Halbinsel angreifender Feind, der ihre Selbstbehauptungskräfte bis zum äußersten reizte. Gleiches galt für die Nation der Deutschen hinsichtlich der über den Bosporus Eindringenden. Es sei dahingestellt, ob man mit ihrer Setzung als Todfeinde sowohl dem arabischen wie dem osmanischen Imperium so sehr unrecht tat. Sicher ist jedenfalls, daß man heute gerne das Gegenteil annehmen möchte.

Mit sorgenvoller Miene fühlt seit nunmehr zehn Jahren der Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer den Puls der Bundesrepublik. Krank ist unsere Gesellschaft, sehr krank, wenn man seiner Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ glauben möchte. Überall verborgen lauere das „Syndrom“ einer „Ideologie der Ungleichwertigkeit“: „Sie ist keineswegs historisch überholt, sondern ist transformiert in ‘moderate’ Formen, aber stets latent vorhanden und aktivierbar für eskalative Aktionsformen.“

Wahrlich vielfältig sind die Symptome dieser Krankheit. Neben den oben aufgeführten Feindbildern, die Heitmeyer unter „Islamophobie“ und „Rassismus“ subsumieren dürfte, findet man von „Fremdenfeindlichkeit“ bis „Sexismus“ eigentlich jeden, der sich irgendwie benachteiligt fühlen könnte. Nur eine Gruppe vergaß Heitmeyer in seiner Diagnose, die in der Tat auf ein mentales Problem hindeuten könnte. Denn was verbirgt sich eigentlich hinter dem „Kampf gegen Rechts“?

Von sich behauptet dieser Kampf, daß er die leuchtende Minerva der Aufklärung gegen dumpfes, atavistisches Denken ins Felde führt. Das würde bedeuten, daß er kein Feindbild setzen darf, sondern den Gegner differenziert betrachtet; in diesem Fall also beispielsweise in rechtsliberal, rechtskonservativ, rechtspopulistisch und so weiter gliedert. Selbst den tatsächlichen NS-Anhänger müßte er noch einem linken oder rechten Parteiflügel zuordnen. Weit entfernt, den Gegner zu entmenschlichen, würde er auch nicht mit bloßen Emotionen arbeiten. Er müßte vielmehr das Gespräch mit diesem suchen, dessen Argumente ehrlich abwägen und dann versuchen, sie zu widerlegen.

Nichts davon geschieht natürlich. Alle sind gleich, alle sind gleichermaßen zu behandelnder „Dreck“, gegen den jedes Mittel recht ist. Wer zögert, wer nachdenkt, wer dem Feind zur „Akzeptanz“ verhilft, der hat schon verloren. Denn er wird dich vernichten, wenn du auch nur einen Augenblick lang zögerst. Wie, du siehst deinen Feind nicht? Keine straff marschierenden Kolonnen? Er hat sich längst getarnt und will dich im Schlaf vergiften. „Aus der Mitte der Gesellschaft“ träufelt er sein Gift, sei wachsam und hüte dich gut! Achte auf Zeichen, auf die Rede deines Nächsten, tut er wunderliche Dinge? – Wird eine zukünftige Zivilisation über uns noch urteilen können, so wird sie unsere Zeit wie wir die Zeit der Hexenhysterien und Veitstänze betrachten.

Es mag nicht abgestritten werden, daß es damals tatsächlich Menschen gegeben hat, die sich der Schwarzen Kunst verschrieben. Die Reaktion war freilich grotesk. Der kleinste Ruch moralischer Verfehlung konnte einen Blutrausch auslösen, der nicht anders als kollektive Besessenheit gedeutet werden kann. Es wurde schon öfter geschrieben, daß hier die Verfolger Vorstellungen auf ihre unglücklichen Opfer übertrugen, die eigentlich Widerspiegelungen ihres eigenen Unbewußten waren; bizarre Entartungen, die sie bei anderen sehen wollten, die aber ihrem eigenen Hirn entsprangen. Projektion wird dieses Phänomen in der psychiatrischen Medizin genannt.

Es hat daher eine gewisse Tragik, wenn Heitmeyer als säkularer Wiedergänger des Inquisitors Heinrich Kramer mit dem Vokabular eines Arztes der deutschen Gesellschaft zu Leibe rücken will. Denn ein bestimmtes Maß an Blindheit gehört schon dazu, diesen Balken „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ nicht zu sehen, dessen Splitter Heitmeyer bei anderen ausmachen will.

Man ersetze die Deutschen nur durch den irgendeines anderen, fremden Volkes, und man wird „Deutsche Zustände“ kaum anders lesen können als eine Sammlung von chauvinistischen Ressentiments, verallgemeinernden Unterstellungen und einer wissenschaftlichen Herangehensweise, die nicht weit oberhalb des „Hexenhammers“ anzusiedeln ist.

Der „Kampf gegen Rechts“ als Gipfel der Aufklärung? Welch ein Hohn. Man gehe nur auf eine der vielen staatlich geförderten Veranstaltungen „gegen Rechts“. Wie sie dort sitzen, die Bäckchen bebend vor eigener Wichtigkeit, das feiste Gemüt von den immer gleichen, manichäischen Phrasen in endloser Wiederholung berieselt; und die Redner mit fieberfleckigen Gesichtern, die flackernden Augen weit geöffnet, die Stimme bis zur hysterischen Überschlagung erhoben: Biedermänner und Brandstifter, man kann sie nicht anders nennen – geeint im gemeinsamen Haß auf einen Feind.

Was haben die ganzen tapferen „Kämpfer gegen Rechts“ bisher geleistet? Was haben sie für unsere Gesellschaft getan, außer Haß auf unsere Kultur und Zwietracht zwischen den Menschen zu säen, ein drückendes Klima von Angst und Denunziation zu erzeugen?

Der Befund ist so eindeutig, daß nur noch eines uns davon abhält, hier die idealtypische Konstruktion eines Feindbildes festzustellen: Ist es denn nicht so, daß die soziale Funktion des Feindes sonst dazu dient, die eigene Gruppe zu erhöhen? Hier findet aber das genaue Gegenteil statt. Wer auf die Gräber seiner Ahnen den größten Kothaufen setzt, kann sich sicher sein, am meisten Ansehen zu gewinnen. Ein morbider Initiationsritus, durch den man wohl zum – heimatlosen – „Weltbürger“ werden soll.

Allein, die Hoffnung ist vergebens. Man unterscheidet sich dadurch nicht im geringsten vom blinden, dumpfen Mob, über den man sich so erhaben dünkt. Denn manchmal dient der Feindmechanismus nicht dazu, eine Gesellschaft zu stabilisieren, sondern sie zu vernichten. Im landläufigen Bewußtsein ist die Hexenhysterie nur Ausdruck eines finsteren Mittelalters. Diese Betrachtungsweise ist aber eher falsch und wohl einer Aufklärung geschuldet, die ihr Licht gerne etwas heller sehen mochte.

Tatsächlich begannen die großen Verfolgungswellen erst, als sich ein neues Zeitalter ankündigte. Geburtswehen der Neuzeit waren es, welche die mittelalterliche Gesellschaft mit Hammerschlägen zerstörten und die Menschen bis in den Massenwahn hinein ihrer Identität beraubten. Gewiß, aus den Trümmern hat sich eine neue Gesellschaft erhoben. Die übernationale Macht von Kaiser und Kirche brechend, begann die große Zeit der modernen Territorialstaaten. Heute scheinen wir wieder an einer solchen Schwelle zu stehen. „Eine Welt“ sollen wir werden, das „Konstrukt Nation“ wie ein verbrauchtes Kleid abstreifen und gegen ein ungewisses, supra-nationales Nichts eintauschen.

Wer ist dieser Feind eigentlich in Wirklichkeit, der hier als „Nazi“ entmenscht und verfolgt werden soll? Die Stoßrichtung ist eindeutig. Wer waren die Menschen, die Deutschland nach dem Krieg wieder aufbauten? Was war ihre geistige Haltung; woher kamen ihre Kräfte, das zu tun, was sie taten? Waren sie vom Wunsch beseelt, sich ihrer Vergangenheit möglichst verächtlich gegenüberzustellen? Spuckten sie Soldaten ins Gesicht, die für sie – und nicht für Hitler – auf weiten Schlachtfeldern kämpften und sich opferten?

Es waren Menschen, die ihr Land liebten und die ihr Volk liebten. Sie waren das Erz, aus dem unsere Gesellschaft gebildet, und ihre Liebe war das Feuer, in dem die freiheitlich-demokratische Grundordnung geschmiedet wurde; uns Nachgeborenen zum Geschenk. Was dagegen haben die ganzen tapferen „Kämpfer gegen Rechts“ bisher geleistet? Was haben sie für unsere Gesellschaft getan, außer Haß auf unsere Kultur und Zwietracht zwischen den Menschen zu säen? Mit lügenhafter Sprache erzeugen sie ein drückendes Klima von Angst und Denunziation – und diese Narren bezeichnen sich als Verteidiger unserer Freiheit, unserer Demokratie!

Ein Welt-Reich, ein Welt-Volk, ein Welt-Führer, so tönt es uns entgegen. Und wir, unserer Identität und Würde entkleidet, ganz still und ohne Protest, sollen als gleichförmig stumpfe Masse folgen. Kraftlos, unser Wohl verraten, unseren Nutzen verschwendet, Schaden über uns gebracht, erblicken wir die fiebrig-glänzende Morgenröte einer neuen Zeit. Trunken taumeln wir dahin in den großen Wahnsinn. „Seht, ich mache alles neu“, spricht dieser Wahnsinn, „ohne daß ihr euren Sinn ändern müßt.“

 

Fabian Schmidt-Ahmad ist Sozialwissenschaftler und lebt als Publizist in Berlin. Auf dem Forum schrieb er zuletzt einen Beitrag über moslemischen Antisemitismus (JF 5/09).

Foto: Johann Georg Greiner, „Schlacht gegen die Türken vor Klosterneuburg“ (um 1689): Was die Funktion des Feindes betrifft, so glaubt man in Deutschland gründlich Abbrucharbeit geleistet zu haben. Und tatsächlich ist man sehr darum bemüht, was früher als gerade galt, heute krumm zu sehen. Als die europäische Christenheit geboren wurde, war es nicht zuletzt ein über die iberische Halbinsel angreifender Feind, der ihre Selbstbehauptungskräfte bis zum äußersten reizte. Gleiches galt für die Nation der Deutschen hinsichtlich der über den Bosporus eindringenden Türken.

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