© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/09-53/09 18./25. Dezember 2009

Im Reich der Zuckerfee
Weihnachtsmusik: Tschaikowskis „Nußknacker“ führt zurück in das Traumland der Kinderzeit
Wiebke Dethlefs

Die meisten Musikfreunde werden auf die Frage, welches große Werk der klassischen Musik am eindrucksvollsten Weihnachten und seinen Geist wiedergibt, sicherlich Bachs Weihnachts­oratorium nennen. Andere werden auf Händels „Messias“ hinweisen, bei dem allerdings nur der erste seiner drei Teile von Weihnachten handelt. Eine kleine Zahl wird Humperdincks „Hänsel und Gretel“ bevorzugen, wo zwar die Handlung keinerlei Weihnachtsbezug hat, aber der stille Märchenzauber dieser Oper doch so recht zu Weihnachten paßt, wie meist die Antwort ergänzt werden wird.

Doch wird kaum jemand für ein Werk eintreten, das zwar auch zur Weihnachtszeit aufgeführt wird (wenngleich nicht häufig), doch ein „weltliches“ Stück ist. Aber seine wunderbar-bezaubernde Märchenhandlung spielt sogar an Weihnachten, und es ist in seiner farbenprächtigen, überquellenden Phantasie gleichsam das weltliche, „romantische“ Pendant zum strengen Protestantismus, zur barocken holzschnittartigen Herbheit Bachs. Gemeint ist Peter Tschaikowskis Ballett „Der Nußknacker“.

Während Bach die Heilsgeschichte in unvergängliche Töne packt, läßt Tschaikowski etwas anderes lebendig werden, was ebenso untrennbar mit Weihnachten verbunden ist: das Traumland der Kinderzeit mit der stillen Vorfreude auf die Bescherung und dann dem überschäumenden Jubel, wenn sich am Abend des 24. Dezember endlich die Tür zum Gabenzimmer öffnet. Für Kinder war das stets ungeheuer phantasieanregend, kaum konnten sie vor diesem Tag oder in der Nacht danach einschlafen. Tschaikowski gibt all diesen Empfindungen musikalischen Raum; und sein Werk wirkt um so ergreifender, da es sich um Reflexionen eines Erwachsenen handelt.

Die literarische Vorlage stammt von E.T.A. Hoffmann, der im Märchen „Nußknacker und Mausekönig“ aber keineswegs eine Geschichte für Kinder verfaßte, sondern letztlich ein Nachtstück der Seele schrieb. Alexandre Dumas d. Ä. gestaltete die Vorlage unter Wegnahme des tiefenpsychologischen Moments und mit etwas verändertem Handlungsstrang 1844 zu einem wirklichen Kindermärchen um.

Petersburgs berühmter Ballettmeister Marius Petipa war von Dumas’ Märchen fasziniert, verfaßte auf dieser Vorlage das Libretto zu einem Ballett und bat Peter Tschaikowski 1890, dafür die Musik zu komponieren. Übrigens ist es daher unzulässig, wenn moderne Regisseure psychologisch verfremdete Interpretationen des Balletts inszenieren.

Die Hauptheldin Klara (im russischen Original Mascha) erhält am Weihnachtsabend von ihrem Patenonkel Drosselmeier einen Nußknacker zum Geschenk, der beim Spielen auseinanderbricht, doch vom Onkel wieder zusammengesetzt wird und sich in einem Puppenbett erholen darf.

Während die Eltern weiter das Weihnachtsfest feiern, geht Klara ins Bett. Ihre Phantasie versucht die vielen schönen Eindrücke zu bewältigen, doch im Traum ändert sich die Situation: Der Nußknacker wird lebendig und zieht mit einer Schar von Lebkuchensoldaten gegen den bösen Mausekönig zu Felde. Klara nimmt an der Schlacht aktiv teil und wirft dem Mausekönig ihren Schuh an den Kopf, worauf das ganze Mäusepack in die Kanalisation entflieht und der Nußknacker als Sieger aus dem Ringen hervorgeht.

Zum Dank reist er mit Klara ins Reich der Süßigkeiten. Auf dem Weg dorthin geraten sie in einen Schneesturm, kommen aber gut an. Die Zuckerfee, die das Land beherrscht, verwandelt den Nußknacker in einen schönen Prinzen. Ein Fest zu Ehren der Gäste, denen Tänze, Speisen und Getränke aus allen Ländern gebracht und vorgeführt werden, gipfelt in einer großartigen Blumenparade. Prinz und Zuckerfee waren bereits früher miteinander verlobt, doch er war durch eine böse Hexe, deren Gunst er verschmäht hatte, in ebenjenen Nußknacker verwandelt. Die Apotheose des Balletts vereint die Liebenden. Klara kehrt in die Wirklichkeit zurück.

Tschaikowski fühlte sich während der Arbeit an dem Ballett „ausgeschrieben“ und lustlos. Die Uraufführung am 5. Dezember 1892 im Marijnski-Theater geriet nur zu einem mittleren Erfolg, doch war die einige Monate vorher erstaufgeführte Ballettsuite dafür um so glänzender aufgenommen worden. Das Libretto des Balletts weist durchaus dramaturgische Mängel auf – der erste Akt beginnt mit einer Szene in der Wirklichkeit und endet im Traum, mit der Ankunft der Helden im Feenschloß im zweiten Akt ist die Handlung schon beendet, und es folgen nur noch die „kontemplativen“ Tänze .

Doch demgegenüber zeigt Tschaikowskis Musik einen Erfindungsreichtum, eine Melodienseligkeit und eine technische Meisterschaft, wie man sie bei seinen anderen beiden Balletten nicht findet. Zum ersten Mal wird die damals neu erfundene Celesta in einer großen Komposition eingesetzt. Ihr unirdischer Klang malt die Zuckerfee. Bereits die Ouvertüre ist ein Meisterstück, in ihrer filigranen motivischen Arbeit gleichsam musikalische Spitzenklöppelei.

Im ersten Akt, in der Szene am Weihnachtsabend, ziehen die Kinder zu einem bezaubernden kleinen Marsch ein, der Tanz des Großvaters ist von schönster deutscher Innigkeit (wenngleich das Thema nicht vom Komponisten selbst stammt), und dem Aktschluß mit dem fantastischen Schneeflockenwalzer samt seinen vokalisierenden Kinderstimmen wohnt ein Zauber inne, den auch ein Klangmagier wie Tschaikowski nur selten verströmte.

Der Beginn des zweiten Aktes verknüpft die Stimmung von Wagners „Waldweben“ mit der des Mondchors aus Nicolais „Lustigen Weibern“ in harfenumrauschter Süße, die aber durch sanft dissonierende Chromatik nicht allzu banal wird. Die exotischen Charaktertänze sind von überwältigendem Phantasiereichtum (genial sind die akkordischen Flöten im „Rohrflötentanz“), den auch nicht der im Aufbau einem Strauß-Walzer nachempfundene Blumenwalzer übertrifft. Während die Suite mit diesem endet, schließt sich in der kompletten Ballettmusik noch ein Pas de deux an, wo eine einfache absteigende Cellolinie über kadenzierenden Akkorden und Girlanden dreier Harfen grandios gesteigert wird. In kühnem tänzerischen Schwung endet das Werk mit einem weiteren Walzer.

Die singuläre Komposition ist durch ihr Vermögen, ein überzeitliches Traumland der Kindheit mit künstlerisch überzeugenden Mitteln zu beschwören, zumindest für Erwachsene nicht weniger meditativ als ihr geistliches Gegenstück. Dem „Nußknacker“ gebührt daher neben den großen Evangelienmusiken der Meister des Barock ein gleichwertiger Platz in der Reihe der unvergänglichen Weihnachtsmusiken.

Foto: Bühnenbildentwurf zu Tschaikowskis „Nußknacker“: Die singuläre Komposition ist nicht weniger meditativ als ihr geistliches Gegenstück

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