© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/09-53/09 18./25. Dezember 2009

„Sie arbeiten zuviel“
Warum liebt man uns nicht? Über das Phänomen des Deutschenhasses
Florian Lux

Als Deutscher wird man auf der Welt häufig geachtet, manchmal gefürchtet, selten aber wirklich gemocht. Unter den direkten Nachbarn (Holländern, Polen, Schweizern) sei die Sympathie am geringsten, heißt es. Sie steige jedoch in dem Verhältnis, je weiter man die Deutschen entfernt wisse (in Arabien sei sie schon hoch, in Fernost am höchsten).

Nach zwei verlorenen Weltkriegen stellen die Sieger, besonders in ihren Filmen, Deutsche gern als faschistische Trottel oder spaß- und empathiefreie Sonderlinge dar, ohne daß sich im Land der schuldbeflissenen Besiegten spürbares Unbehagen dagegen regte. – Woran liegt das?

Wie jemand von anderen empfunden wird, hängt sehr stark davon ab, wie er sich selbst empfindet. Völker, die ein gespanntes Verhältnis zu sich selbst haben, sorgen in der Regel dafür, auch in einem gespannten Verhältnis zu anderen zu stehen. Ihre Unzufriedenheit macht sie besonders ehrgeizig und führt schließlich zu der Vorstellung, zwar überall verachtet, aber zugleich auch etwas „Besonderes“ zu sein. Das wiederum weckt das Mißfallen und den Neid der Nachbarn.

Die Deutschen fürchten bis heute, vor den Ansprüchen der Welt nicht zu bestehen. Und diese „Angst“ hat eine lange Tradition – angefangen vielleicht bei den deutschen Humanisten des 15., 16. Jahrhunderts, von denen sich viele für den Mangel an „Kultur“ ihrer Landsleute zu schämen begannen. Andererseits wären die Deutschen aber wohl kaum das Volk der Gelehrten, Dichter und Denker geworden, wenn sie nicht empfindlich unter diesem Minderwertigkeitsgefühl gelitten hätten, das sie zu Kompensationsleistungen anstachelte.

Wie sehr das Bild, das in Europa schon damals über die Deutschen vorherrschte, von diesen selbst angenommen worden war, belegt ein Ausspruch Martin Luthers in den „Tischreden“ um 1540: „Es ist keine verachtetere Nation als die Deutschen. Die Italiener nennen uns Bestien; Frankreich und England spotten unsrer und alle anderen Länder. Wer weiß, was Gott will und aus den Deutschen machen wird; obwohl wir eine gute Staupe vor Gott wohl verdient haben.“

Diese Empfindung zieht sich durch die gesamte deutsche Geschichte. Und natürlich hat sie ihren Anteil an der Entstehung des chronisch desolaten deutschen Selbstbewußtseins, das zu jenen Pendelschlägen bald in den Chauvinismus, bald in die Selbstverachtung führte, von denen bis heute der deutsche Alltag bestimmt wird.

Der Philosoph Max Scheler machte in seiner Studie „Die Ursachen des Deutschenhasses“ (1917) Luther selbst, bzw. den Protestantismus indirekt dafür verantwortlich, daß die Deutschen in der Welt und vor allem unter den europäischen Nachbarn so unbeliebt geworden seien. Dennoch verurteilt der Katholik jüdischer Herkunft das Luthertum keineswegs einseitig, sondern erkennt darin vielmehr auch die Quellen deutscher Tüchtigkeit, die wiederum den rasanten Aufstieg vom Land der Dichter und Schöngeister zur imposanten Industrie- und Großmacht mit imperialen Ansprüchen begründete, was besonders Franzosen und Briten Furcht einjagte. „Als ein paar Jahre vor dem Kriege einer unserer römischen Botschafter einen klugen Franzosen frug, warum die Deutschen so allseitig in der Welt gehaßt würden, antwortete er, das könne man in drei Worten sagen. ... ‘Ils travaillent trop.’“

Die deutsche Arbeitsauffassung, der deutsche Fleiß, die deutsche Gründlichkeit – ergaben sich diese Tugenden aus dem Protestantismus, oder ergab sich der Protestantismus nicht vielmehr aus der Mentalität, die solche Tugenden hervorbrachte? Waren die Deutschen nicht aus den gleichen Gründen zum Protestantismus „verurteilt“ wie das Abendland aufgrund seiner Entwicklung zum Christentum? In beiden Lebensformen suchte ein bestimmter Wille, der sich durch Klima, Landschaft und tradierte Denkgewohnheiten, durch Mythos und Sprache gefestigt hatte, seinen weltanschaulichen Weg und bildete entsprechende Arten heraus.

Wie Völker „denken“, hängt ganz wesentlich von den Umständen ab, unter denen sie „geworden“ sind. Um 1900 verstanden einige europäische Staaten nicht, wie es in Deutschland zur Metamorphose oder zum „Sprung“ Weimar–Potsdam, Goethe–Krupp (Scheler) kommen konnte, der vielen unheimlich und beängstigend erschien. Heute wundern sich manche im Ausland über die penetrante deutsche Selbstverachtung, die dort wiederum als beunruhigend wahrgenommen wird. Doch besteht nicht ein strenger Zusammenhang zwischen diesen beiden „Verhaltensauffälligkeiten“, der seine Erklärung womöglich in der Wirksamkeit fest verankerter, durch den Protestantismus ausgeformter Archetypen findet?

Fast zeitgleich kam der bedeutende österreichische Psychologe Erwin Stransky in seiner Studie „Der Deutschenhaß“ (1919) zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie Scheler. Als Gelehrter und Arzt mit dem Schwerpunkt Schizophrenie verwies er jedoch mehr auf die mentale Entwicklung der Deutschen. Aufgrund der geographischen Lage, geschichtlichen Werdung und „rassischen“ Disposition attestierte Stransky dem „germanischen Menschen“ vor allem zwei Eigenschaften, die ihn bei den Nachbarvölkern so unbeliebt gemacht hätten: einen übersteigerten „seelischen Individualismus“, der zu Eigenbrötlerei und zum Mangel an sozialer Empathie führte, sowie einen Hang zum Schulmeisterlichen und Pedantischen, der die Deutschen auf ihre Nachbarn herabblicken ließ. Aus beiden Eigenschaften erwuchs jedoch auch der Typus des „deutschen Professors“, der wesentlich zum Aufstieg der Deutschen als führende Wissenschaftsnation beitrug.

Die „Eigenidolatrie“ und das Fehlen sozialer Instinkte sei jedoch auch das eigentlich Verhängnisvolle, denn es habe die Deutschen immer daran gehindert, sich als ein Volk zu fühlen, was zu bestimmten, tiefsitzenden Komplexen geführt habe. Es fehle den Deutschen seit jeher an „gutem Geschmack“ und an „gesundem Menschenverstand“, bemängelt der leidenschaftliche Patriot. Dem gegenüber stehe die „oft geradezu unleidliche Lust, zu dozieren, den lieben Mitmenschen erbauliche Vorlesungen zu halten und alles und jedes besser wissen zu wollen“. Und auch diese „bittere Wahrheit“ dürfe nicht unausgesprochen bleiben, „daß das deutsche Volk mehr als einen Krieg, daß es eine Geschichts-epoche verloren habe“.

Fazit: „Wäre der Deutsche im Alltag so selbstverständlich national, wie es, ohne darum Nationalist zu sein, der Angelsachse, der Romane, der Slave ist, staute er nicht das Nationale in sich im Alltag als zu ‘gewöhnlich’ zurück, wäre es in seinem Fühlen und Denken, Tun und Lassen selbstverständlicher und darum harmonischer verankert, es täte nicht not, daß es dann fallweise mit so brutaler Massenwucht hervorbräche, um alsbald wieder jäh in sich zusammenzusinken, es wäre dann keine geringschätzige Verachtung bei den anderen ob des Fehlens nationaler Würde, aber auch kein siedender Haß ob des Entsetzens, den das brüske, unerwartete Hervorbrechen der furiosen Sturzwelle nationalen Sinnes, mit dem niemand ernstlich gerechnet hatte, bei den Nachbarn anrichtet!“

Die beiden in vielerlei Hinsicht aufschlußreichen wie verstörenden Studien von Max Scheler und Erwin Stransky erlauben einen tiefen Blick auf den Zustand deutscher Befindlichkeiten vor der großen psychologischen Zäsur von 1945. Es ist faszinierend und beunruhigend zugleich, wie wenig sich am Typus des Deutschen zwischen 1919 (und man kann dergleichen auch schon 1819 lesen) und 2009 geändert hat. Die Entwicklung, welche die „deutsche Seele“ in den letzten Jahrhunderten nahm, darf daher nicht überraschen, sie ist nur konsequent. Das „Deutsche“ als kollektiver Charakterzug blieb sich wesentlich gleich, auch wenn es seine Ausdrucksformen wechselte. So wurde lange als „deutsch“ verachtet, was heute vor allem das „Linke“ charakterisiert: jene Rechthaberei, jene Schulmeisterlichkeit im „Gutsein“, jene moralische Unanfechtbarkeit, jener Dogmatismus, und zuletzt – jener endogene Selbsthaß, der alles Fremde über das Eigene hebt.

Und so drängt sich der unbehaglich paradoxe Schluß auf, daß das „Deutsche“ im 20. Jahrhundert gar nicht vernichtet, sondern vielmehr nur noch stärker „zu sich selbst“ gekommen ist, und daß der „linkeste“, der dogmatische „Gutmensch“ folglich heute im Grunde der „deutscheste“ Mensch ist.

Foto: Wolfgang Mattheuer, Verwirrt im Nebel (Ausschnitt), Holzschnitt 1977: Pendelschläge zwischen Chauvinismus und Selbstverachtung, die bis heute den deutschen Alltag bestimmen

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