© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/09-53/09 18./25. Dezember 2009

Die unvollendete Revolution
Zwanzig Jahre nach dem gewaltsamen Ende der Ceausescu-Diktatur: Welche Fäden zog der Geheimdienst Securitate?
Martin Schmidt

Die „Rumänische Revolution“ vom Dezember 1989 bietet reichlich Stoff für Spekulationen und ist bis heute unzureichend aufgearbeitet. In dem Roman „Ein Land voller Helden“ (Berlin 2000), der mit den damaligen Ereignissen einsetzt, findet die Schriftstellerin Carmen-Francesca Banciu die nach jetzigem Wissensstand wohl angemessenste Antwort auf die Rätsel dieses einzigen blutig verlaufenen Umbruchs im Wendejahr 1989: Sie gibt keine eindeutigen Interpretationen, sondern läßt ihren „Helden“, einen undurchsichtigen Journalisten, bei der Suche nach Aufklärung, ob es sich in erster Linie um einen Volksaufstand gegen die kommunistische Ceausescu-Diktatur oder eine vom Geheimdienst Securitate gesteuerte interne Verschwörung handelte, im dunkeln tappen.

Die Suche nach den wahren Hintergründen hält jedoch bis heute an. Das zeigte sich während des jüngsten Wahlkampfes um das Präsidentenamt zwischen dem Liberaldemokraten Traian Basescu und dem Postkommunisten Mircea Geoana ebenso wie bei dem Gezerre um die seit 2004 von Basescu eingeleitete Justizreform samt schrittweiser Öffnung der Securitate-Akten. So ist nicht zuletzt die tagespolitische Realität Grund genug, sich – der unbefriedigenden Quellenlage zum Trotz – an die dramatischen Ereignisse des Dezember 1989 zu erinnern.

Mit der Beseitigung der ungarischen Grenzzäune im Frühjahr 1989 sowie den Wahlen in der Volksrepublik Polen vom 4. Juni, die mit einer klaren Niederlage der Kommunisten endeten, war der sich unterschwellig längst anbahnende Zerfall des Ostblocks in eine spektakuläre Phase getreten. Die DDR als das bis dahin zuverlässigste sozialistische Bollwerk wurde im Herbst 1989 bis hin zum Mauerfall immer schwächer, und auch die „Samtene Revolution“ in der Tschechoslowakei brachte bereits Ende November viele Millionen Menschen auf die Straße. Zu dieser Zeit war es in Rumänien noch weitgehend ruhig.

Dabei hatte das von westlichen Ländern lange verhätschelte rote Reich Ceausescus bereits 1982 seine Zahlungsunfähigkeit erklären müssen und war zum Schauplatz eines aberwitzigen Personenkults und zu einem im Vergleich zu anderen sowjetischen Satellitenstaaten erschreckenden Polizeistaat geworden. Die Securitate entwickelte sich zur wichtigsten Stütze der Macht; am Ende der Ceausescu-Zeit beschäftigte sie 14.259 hauptamtliche Mitarbeiter und zwischen 400.000 und 700.000 Informanten.

Riesige Bauvorhaben von Potemkinscher Qualität sollten das In- und Ausland über die katastrophalen Zustände hinwegtäuschen – so der 1984 eingeweihte Donau-Schwarzmeer-Kanal und erst recht der bis zur Wende unvollendete monströse heutige Parlamentspalast in Bukarest samt Versammlungsplatz für eine Million Menschen und dreieinhalb Kilometer langer Prachtstraße für die Funktionärsoligarchie. Daß für das letztgenannte Projekt drei Altstadtviertel und ein kunsthistorisch bedeutendes Kloster abgerissen wurden, war ideologisch ebenso gewollt wie die Entwurzelung der besonders traditionsbewußten ländlichen Bevölkerung, wie sie das 1988 begonnene „Programm zur Systematisierung der Dörfer“ vorsah. Mit diesem wollte Ceausescu 6.500 von etwa 13.000 Dörfer schleifen lassen, um deren Bewohner in „agro-industrielle Zentren“ umzusiedeln.

Oppositionelle Regungen wurden meist schon im Ansatz erstickt. Die Sorge um das tägliche Brot sowie die allgegenwärtige Korruption bewirkten, daß die Menschen praktisch ausschließlich mit sich selbst beschäftigt waren. Dennoch war das Maß im Dezember 1989 voll, nachdem die Flamme des Aufruhrs in Temeschburg (Timisoara), der Hauptstadt des Banat, gelegt war. Im Leipzig Rumäniens, wo die Bevölkerung die Fernsehprogramme des nahen Ungarn  ebenso empfangen konnte wie jene Jugoslawiens, wirkte ein reformierter ungarischer Pfarrer als Kristallisationskern der Revolte: László Tökés. Die Versuche der Staatsmacht, den wegen seiner mutigen Predigten beliebten Tökés zunächst am 2. November gewaltsam einzuschüchtern, um ihn dann Mitte Dezember mittels Strafversetzung an einen anderen Ort mundtot zu machen, entfachten den Zorn der Menschen.

Am 20. Dezember spitzte sich die Lage in Temeschburg dramatisch zu. Schon um 11 Uhr vormittags hatten sich ungefähr 20.000 Menschen auf dem Opernplatz versammelt, wo der kommunistische Kreisparteichef eigentlich eine Pro-Ceausescu-Kundgebung durchführen wollte. Ein 13köpfiges Komitee der Aufständischen, das sich „Frontul Democratic Român“ (Rumänische Demokratische Front) nannte, formulierte die wichtigsten Forderungen, allen voran den Rücktritt von Diktatur Ceausescu, die Bildung einer neuen Regierung, das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freilassung aller in den vorangegangenen Tagen Inhaftierten. Tatsächlich wurden noch am selben Abend sämtliche Gefangenen freigelassen.

Der 21. Dezember brachte dann auch in Bukarest die Entscheidung. Vor dem Gebäude des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei war eine Großkundgebung zur Verurteilung der Ereignisse im Banat geplant. Ceausescu ergriff um 12 Uhr mittags das Wort und wandte sich an die etwa 100.000 Zuhörer. Die zunächst weitgehend teilnahmslose Menge geriet an ihren Rändern plötzlich in Bewegung, als bedrohlich wirkende Geräusche zu hören waren (unterschiedliche Zeugen nannten diese feuerwerks- und bombenähnlich oder sprachen von Gewehrsalven). Als man dann noch über die Megaphone hören konnte, „Terroristen“ schössen auf die Menge und wollten die „Revolution“ niederschlagen, war nicht nur das Chaos da, sondern auch die offene Rebellion der aufgebrachten Massen. Nicolae Ceausescu, das „Genie der Karpaten“, rief ein hilfloses „A-lo, A-lo“ (Hallo, Hallo) in die Menge, das nationale Fernsehen brach seine landesweit von Millionen Menschen verfolgte Direktübertragung jäh ab, Tausende begannen damit, im Zentrum von Bukarest Barrikaden zu errichten.

Am frühen Nachmittag des 21. Dezember gab Ion Iliescu die Gründung einer „Front zur Nationalen Rettung“ bekannt, die die Macht in Rumänien übernommen habe. Die Armee stehe fortan auf seiten des Volkes, hieß es. Die Universitätsbibliothek ging in Flammen auf, auch das Verteidigungsministerium und die von Regimegegnern kontrollierte Fernsehstation wurden zu Zielen heftiger Schießereien mit tatsächlichen oder vermeintlichen Angehörigen der Securitate, die sich noch bis zum 27. Dezember hinzogen und nach offiziellen Angaben 942 Personen das Leben kosteten (insgesamt forderte der Aufstand in Rumänien 1.104 Todesopfer). Darüber hinaus griffen die Unruhen auf andere große Städte wie Arad im Banat, Hermannstadt, Kronstadt und Klausenburg in Siebenbürgen sowie Konstanza am Schwarzen Meer über.

Doch der Diktator entschloß sich noch immer nicht zur Flucht, sondern nahm am 22. Dezember an einer letzten Sitzung des KP-Politbüros teil, verkündete via Radio den Tod von Verteidigungsminister Vasile Milea, der ein Verräter sei und Selbstmord begangen habe, und ließ den landesweiten Notstand verhängen. Um 11.30 Uhr versuchte er nochmals, zu den vor dem ZK-Gebäude versammelten Menschenmassen zu sprechen, wurde jedoch wieder ausgebuht. Der neue Verteidigungsminister Stanculescu hatte ohne sein Wissen die Truppen zurück in ihre Quartiere befohlen und bewog den Diktator, während Aufständische bereits ins Erdgeschoß des Gebäudes vordrangen, gemeinsam mit seiner Frau Elena zur Flucht mit dem Hubschrauber, die unter seltsamen Umständen scheiterte.

Sowohl der Hubschrauberpilot, Oberst Malutan, verstarb später unter ungeklärten Umständen als auch jener Offizier Dinu, der am Abend desselben Tages irgendwo in den Karpaten die Verhaftung des Diktatorenpaars vornahm. Fest steht, daß die Führung der „Rettungsfront“ um Iliescu am 24. Dezember den Beschluß faßte, Ceausescus den Prozeß zu machen. Schon am Folgetag wurde durch ein außerordentliches Militärtribunal in einer Kaserne in Tirgoviste in der Walachei das verhängte Todesurteil ausgeführt wurde und mit der gefilmten Exekution der beiden endete.

Es folgte die Wiederöffnung der rumänischen Außengrenzen, der Verzicht auf Lebensmittelexporte aus dem hungernden Land, die Freilassung der politischen Gefangenen und die Unterstellung der Securitate unter den Befehl der Armee, nicht jedoch die von vielen Demonstranten geforderte Auflösung des berüchtigten Geheimdienstes. Dieser nannte sich fortan „Rumänischer Informationsdienst“ (SRI) und übernahm nach eigenen Angaben vierzig Prozent des Securitate-Personals.

Die Akten der Securitate wurden erst 2004 einer der deutschen Birthler-Behörde vergleichbaren Einrichtung übergeben; die meisten Militärdokumente über den Sturz von Nicolae Ceausescu sind allerdings bis heute nicht zugänglich, was den Keim für andauernde Diskussionen über die „unvollendete“ oder „mißbrauchte“ Revolution und vor allem die Rolle des mit Unterbrechung bis 2004 herrschenden Präsidenten Ion Iliescu gelegt hat. Auch dessen „bürgerlicher“ Nachfolger Traian Basescu soll engere Kontakte zur Securitate unterhalten haben.

Foto: Proteste gegen die Herrschaft Ceausescus im Dezember 1989 in Temeschburg (Timisoara) im Banat, das kommunistische Symbol wurde vielfach aus der Fahne geschnitten: Das Maß war voll, Ceausescu bei seiner letzten Rede vor der aufgebrachten Menge in Bukarest am 21. Dezember 1989: „A-lo, A-lo“

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