© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  01/10 01. Januar 2010

Wunder sind möglich
20 Jahre Einheit: Die Deutschen sind von geistig-politischer Souveränität noch weit entfernt
Thorsten Hinz

Denken wir uns den Jahresbeginn 2010 ohne den Mauerfall und die Wiedervereinigung 20 Jahre zuvor: Wirtschaftlich würde es der DDR schlimmer ergehen als Polen 1980. Städte wie Görlitz, Naumburg, Schwerin, Stralsund, Wittenberge, jetzt Stolz und Zierde des vereinten Landes, wären Plattenbauwüsten. Die Mauer in Berlin stünde unangefochten, verschönt allerdings durch Blumenrabatten. Eine neue Sorte Landminen an der innerdeutschen Grenze würde nur noch Füße zerfetzen, aber nicht mehr töten.

Bundeskanzler Oskar Lafontaine (SPD), im Amt seit 1991, würde beides als Zeichen ernsthaften Reformwillens in der Ost-Berliner Führung begrüßen. Die Westpresse grübelte über die Gerüchte eines Zickenkriegs im verjüngten SED-Politbüro zwischen Petra Pau und Sahra Wagenknecht nach. Der Bundesbeauftragten für gleichgeschlechtliche Lebensweisen, Frauen und Familie, Alice Schwarzer (parteilos), bliebe es vorbehalten, die Spekulationen auf ihren politischen Kern zurückzuführen: Unsere DDR-Schwestern emanzipieren sich von den männlichen Machtstrukturen!

Wer aus der DDR kommt, wird die Realität, so kritikwürdig sie ist, solchem Alptraum auf jeden Fall vorziehen. Für jene Westdeutschen, für die die Wiedervereinigung keinen Wert an sich darstellt, denen sie auch keine berufliche Perspektive inklusive „Buschzulage“ eröffnet hat, könnte sich ihr Vorzug wenigstens auf einer abstrakten Ebene ergeben: indem sie nämlich die Rettung und den friedlichen Zugewinn von Landschaften, Orten, städtebaulichen Schönheiten, die eine nationalgeschichtliche und -kulturelle Tiefendimension enthalten, auf sich selber zu beziehen lernen.

Die Wiedervereinigung, die gern als Naturereignis beschrieben wird, war alles andere als selbstverständlich. Unmittelbar, ehrlich und real war sie zuletzt durch den Ost-Berliner Aufstand vom 17. Juni 1953 auf die Tagesordnung gesetzt worden. Dieses Datum ist von doppelter Tragik, denn nach Stalins Tod sandte die Sowjetunion Signale aus, daß sie die DDR möglicherweise zur Disposition stellen wolle. Welchen Preis die Bundesrepublik und der Westen dafür zu zahlen bereit waren, mußten beide nicht beweisen, denn nach dem Aufstand hätte die Preisgabe der DDR einen Prestigeverlust bedeutet, den die östliche Supermacht sich nicht leisten konnte. Der Tag der Deutschen Einheit wurde danach zu einem Ritual, dessen Sinn von immer weniger Menschen verstanden wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die politische Ohnmacht Deutschlands, die durch die Reichsgründung 1871 kurzzeitig behoben worden war, total geworden. Die beiden deutschen Teilstaaten formulierten ihre politische Identität, indem sie sich besonders eng an ihre jeweiligen Vormächte anschmiegten. Für die Bevölkerung in der DDR war das bitter, weshalb hier die Hoffnung auf die deutsche Einheit lebendig blieb. Für viele Westdeutsche dagegen erschien es als eine Frage der Lebensklugheit, wirtschaftliches Wohlergehen durch politische Enthaltsamkeit und nationale Selbstneutralisierung abzusichern. In den 1980er Jahren wurde die Bundesrepublik häufig als „postnational“ beschrieben – ein Begriff aus dem Geist der politischen Romantik, denn in der Wirklichkeit blieb Deutschland als exklusives Schlachtfeld im Ost-West-Konflikt auserkoren. Noch 1989 drängten Paris und London darauf, in der Bundesrepublik atomare Kurzstreckenraketen zu stationieren, die umgehend mit sowjetischen Raketen in der DDR beantwortet worden wären. Der Hintergedanke bestand darin, das Atomkriegsrisiko – um es Wirklichkeit werden zu lassen, hätte ein technisches Versehen oder die Nervenschwäche des Bedienungspersonals ausgereicht – für sich selber zu begrenzen, indem man es auf Deutschland konzentrierte. Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr!

Die unpolitischen, romantischen Reflexe blieben nach der Wiedervereinigung intakt. Der zur zweiten Natur gewordene Drang zur Selbstneutralisierung wurde durch das Aufgeben der D-Mark und die Festlegung auf supranationale Strukturen im Grundgesetz fortgesetzt. Doch diese Haltung garantiert längst keinen äußeren Frieden mehr, wie sich im Afghanistan-Krieg zeigt. Deutschland beteiligt sich daran als willenloser Satrap und nicht nach Abwägung eigener, nationaler Interessen. Das Gegacker seiner Politiker und Journalisten zeigt, daß ihnen für diese Zusammenhänge kein Vokabular mehr zur Verfügung steht.

Am Jahresbeginn 2010 müssen wir uns daher klarmachen, daß die Motivationen und Energieschübe, die 1990 freigesetzt wurden, ebenso aufgebraucht sind wie die Ausflüchte, welche die gesamtdeutschen Übel auf das DDR-Erbe zurückführen. Eine Vollendung der inneren Einheit kann nicht mehr in der Anpassung Mitteldeutschlands an den Westen bestehen. Das System, das den Westdeutschen vertraut ist und das die DDR-Bürger 1989/90 als sichere Fluchtburg betrachteten, ist brüchig geworden.

Die Demokratie ist zur Akklamation eines Parteienstaates und der Brüsseler Bürokratie degeneriert. Seine Intellektuellen schwadronieren über die Vereinbarkeit des politischen Islam mit Demokratie und Rechtsstaat, was an die fatale Umarmungsstrategie eines Franz von Papen gegenüber Hitler erinnert. Staatliche Schnüffeldienste erforschen Gesinnungen, Bankkonten und Bewegungsprofile. Der Quelle-Konzern, der das Wirtschaftswunder und den Massenwohlstand im Wortsinne greifbar machte, der die Alltagsästhetik bestimmte und dann in der Ex-DDR für den Anschluß an die westliche Konsumwelt sorgte, hat gerade seine Pforten geschlossen. Der Sozialstaat ist pleite, alimentiert und belohnt aber unverdrossen die Regenerierung einer leistungsunwilligen und -fähigen Unterschicht.

Die inneren Kräfteverhältnisse können zu der Ansicht verführen, daß nur noch ein Wunder solche destruktiven Tendenzen aufhalten kann. In diesem Sinne lassen uns die Ereignisse vor 20 Jahren hoffen: Sie zeugen davon, daß Wunder möglich sind.

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