© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  01/10 01. Januar 2010

Von wegen vordemokratisch
Die nun in Übersetzung vorliegende Studie der Historikerin Margaret Anderson preist die demokratische Kultur im deutschen Georg Elser. Kontrafaktische Kaiserreich
Manfred Backerra

Margaret Lavinia Anderson, Professorin für europäische Geschichte in Berkeley, bekannt durch ihr Buch über Bismarcks Gegner Ludwig Windthorst, forschte bis in Lokalzeitungen hinein zehn Jahre über Wahlen und politische Kultur im kaiserlichen Deutschland. Sie zeichnet ein lebendiges, durch witzige Anekdoten gewürztes Bild des vielgestaltigen Reiches.

Die Historische Zeitschrift nannte das Original ein „Muß für jeden, der sich ernsthaft mit der Geschichte des Kaiserreichs beschäftigt“, und wünschte „dringend“ eine Übersetzung. In dieser wurde die gepflegte und zugleich plastische Sprache des Originals nun von Sibylle Hirschfeld hervorragend aus dem Englischen ins Deutsche übertragen, die Zitate den Originalquellen entnommen. Sie ist wegen des informativen Vorworts und der Entfernung von Errata dem Original vorzuziehen.

In den USA gilt das Buch als akademisches Standardwerk, was angesichts Andersons Quintessenz erstaunt: Das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht für Männer (Frauen hatten es weltweit noch nicht) wurde im Norddeutschen Bund 1867, im Reich 1871 eingeführt. Nur Griechenland (1844) und Frankreich (1852) führten dieses früher ein. England erhielt erst 1949, die USA erst 1965 ein gleiches Wahlrecht. Im Reich wurde bis 1893 alle drei, dann alle fünf Jahre gewählt, in England normalerweise nur alle sieben Jahre. Die Macht des Reichstags war de facto so groß wie die anderer Parlamente, auch wenn er nicht die Regierung wählte.

Wahlen und politische Praxis waren um einiges kultivierter als in anderen Ländern. Gewalt, Betrug und Bestechung, noch bis nach 1945 in den USA beklagt, kamen praktisch nicht vor, allerdings – wie überall – Pressionen von Arbeitgebern und anderen Mächtigen. Doch solche Verstöße, besonders staatlicherseits, führten meist zur Annullierung der Wahl durch die Wahlprüfkommission des Reichstags und zur Neuwahl. Die in Frankreich übliche Bestechung von Kommunen durch sachlich nicht gebotene Investitionen „verletzte das deutsche Gefühl für Anstand“ und scheiterte am Rechtsbewußtsein der Beamten.

Selbst während des Kulturkampfes und der Sozialistengesetze waren die Regeln der Demokratie nicht ausgehoben, was das Erstarken der Basisstrukturen der Bekämpften, Zentrum und Sozialdemokraten, möglich machte. Denn der „Obrigkeitsstaat“ war in erster Linie Rechtsstaat. Er schützte den Wähler besser als andere Staaten. In England waren Wahlanfechtungen eine sehr teure persönliche Sache; in den USA sind sie noch heute schwierig. Im Reich waren sie staatlich und kostenlos.

Der Bürger nutzte seine Rechte auch auf eigenes Risiko. Eher als anderswo schuf er starke Parteien, die ihm Halt, Unterstützung und wirkliche Alternativen gaben. Auch sicherten sie durch Beobachter ordnungsgemäße Wahlen. Mischte sich der bejubelte und beliebte Kaiser in das parteipolitische Geschehen zu sehr ein, gewann meist die Opposition.

Nach der Reichsverfassung war jeder Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes. Jeder Wählbare konnte sich zur Wahl stellen, auch wenn seine Partei Verboten unterlag wie die Sozialistische Arbeiterpartei von 1878 bis 1890. In der Wahl(kampf)zeit von vier Wochen, oft durch Stich- und Nachwahlen verlängert, konnte er auch alles sonst Verbotene als Wahlkampfmaterial verbreiten und Wahlveranstaltungen durchführen.

Einzelne Verstöße der Polizei wurden schnell korrigiert. Ein einfaches Reichstagsvotum hob vorherige Verhaftungen und Gerichtsverfahren für die Wahlperiode auf. Man war fair: Bürgerliche Progressive sammelten große Summen für die Familien von Sozialisten, die aufgrund der Sozialistengesetze aus Hamburg ausgewiesen worden waren; Abgeordnete des Zentrums waren gefeierte Strafverteidiger für Sozialisten.

Wahlversammlungen dienten der Information. Den Vorsitzenden wählten die Anwesenden; war die veranstaltende Partei in der Minderheit, konnte es auch ein Gegner sein. Immer hatte ein „Diskussionsredner“ einer anderen Partei nach dem Hauptredner mindestens dreißig Minuten Redezeit.

Anderson führt implizit die Komplexe vom „langen Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) und dem „deutschen Sonderweg“ (Hans-Ulrich Wehler) ad absurdum. Das Kaiserreich stand schon in seinen Lehrjahren der Demokratie wie auch sonst bald mit an der Spitze des Fortschritts. Nicht nur der offiziellen deutschen Geschichtsbetrachtung, die den Empfang demokratischer Weihen meist erst durch die siegreichen Alliierten nach 1945 propagiert und alles andere als „vordemokratische“ Phasen interpretiert, die unweigerlich auf Hitler zulaufen mußten, erteilt Anderson damit eine Lehre, sondern vermittelt sogar noch ein historisches Vorbild für die heutige politische Praxis, in der „die Parteien sich den Staat zur Beute gemacht haben“ (Hans-Herbert von Arnim).

Foto: Plenarsitzungssaal des Reichstags 1889: Fortschrittlicher und mächtiger, als heute kolportiert wird

Margaret Lavinia Anderson: Lehrjahre der Demokratie – Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich. Franz Steiner Verlag Stuttgart 2009, gebunden, 562 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro

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