© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  01/10 01. Januar 2010

Die guten und die bösen Kriegsverbrechen
Eine Diskussion über auch propagandistisch benutzte Fakten, die in der Wehrmachtsuntersuchungsstelle zusammengetragen wurden
Stefan Scheil

Aufrechnen darf man nicht, will man nicht und wird man nicht. In diesem Dreiklang bewegen sich die bundesdeutsche Geschichtspolitik und wenigstens in Teilen auch die zeitgeschichtliche Forschung. Das hat bei der Gedenkpolitik nachvollziehbare Gründe, etwa solche des guten Stils und der historischen Verantwortung, die es gibt, wenn sie auch als Begriff wegen zu häufiger Akklamation am falschen Ort mittlerweile deutlich beschädigt ist.

Der Aufrechnungsverzicht ist aber auch in der Gedenkpolitik problematisch, denn viele andere Parteien und Staaten rechnen täglich auf. Als Ergebnis kommen dann jene stets einseitig offenen Rechnungen zustande, die moralisch oder finanziell von der Bundesrepublik Deutschland zu begleichen sind. Vollends zum Problem wird der Verzicht jedoch dort, wo die Zeitgeschichte den Verlauf des Zweiten Weltkriegs beschreiben will. Im Krieg wurde und wird immer aufgerechnet. Wer in der Darstellung des Krieges diesen Aspekt vergißt, verkennt das nicht nur von Clausewitz beschriebene „Gesetz des Krieges“, das „Tu quoque“ – Du auch – der wechselseitigen Eskalation. Er verkennt damit den Krieg selbst.

Fakten delegitimieren durch „Kontextualisierung“

Während des Zweiten Weltkriegs nun gab es in Deutschland eine Institution, die innerhalb der Wehrmacht nachprüfbare Gewißheit darüber schaffen sollte, welcher Vergehen sich die Kriegsgegner Deutschlands schuldig gemacht hatten. Die Wehrmachtsuntersuchungsstelle (WUSt) beobachtete das Kriegsgeschehen, sammelte Meldungen und stellte selbst Untersuchungen über die gemeldeten Tatsachen an. Ziel war sowohl die Dokumentation der Taten wie die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechern als auch gegebenenfalls die Verwendung des Materials als Antwort auf alliierte Anschuldigungen, letzteres jedenfalls nach dem Willen der Regierung. Die NS-Führung einschließlich Hitlers persönlich drängte darauf, belastbares Material über gegnerische Verbrechen zur Verfügung zu haben.

Daran ist an sich gar nichts Besonderes, auch die Alliierten sammelten Material über wirkliche und angebliche deutsche Kriegsverbrechen zum Zweck der Diskreditierung des Kriegsgegners oder zur Rechtfertigung eigener Taten. Daß dabei Wahrheit nicht immer die entscheidende Kategorie darstellte, um es vorsichtig zu sagen, bewiesen beispielsweise die Sowjets mit der totalen Fälschung von Beweisen über ein deutsches Massaker an polnischen Offizieren in Katyń, das sie in Wahrheit selbst begangen hatten. Diese mit viel Liebe zum Detail erstellte Lügengeschichte stellte zudem das Muster für zahlreiche ähnliche Vorgehensweisen an anderen Orten dar. Eine Historikerin aus dem russischen Präsidialarchiv prägte dafür den Begriff der „Katyń-Methode“.

Diese Zusammenhänge sind fast unerforscht, was in Rußland an den immer noch oder wieder geschlossenen Archiven liegt, in Deutschland, dem Land der offenen Archive, aber offenbar an der verbreiteten Unlust der Zeitgeschichtshistoriker, sich überhaupt mit diesen Fragen zu beschäftigen. Die umfangreichen Akten der Wehrmachtsuntersuchungsstelle erfreuen sich eines weitgehend ungestört ruhigen Aufenthalts im Archiv. Jüngst unternahm die Wochenzeitung Die Zeit (47/09) gar einen merkwürdigen Anlauf, um das einzige umfangreichere Forschungswerk zum Thema auch noch zu diskreditieren. Unter dem Titel „Mißbrauchte Verbrechen“ griff der Aachener Historiker Christoph Rass die Veröffentlichung zur Wehrmachtuntersuchungsstelle an, die der amerikanische Völkerrechtlicher Alfred de Zayas und der niederländische Jurist Walter Rabus als Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft in den siebziger Jahren erarbeitet und vorgelegt haben. Der Titel des Rass-Artikels spricht aus, worum es geht: Es gibt für die Zeit richtig gebrauchte Verbrechen, das sind solche, die deutscher Verantwortung zugeschrieben werden und Maßnahmen gegen Deutschland rechtfertigen können. Und es gibt eben mißbrauchte Verbrechen, also solche der Alliierten, die der deutschen Kriegführung Legitimation verschaffen könnten.

Bemerkenswerterweise versucht Rass bestenfalls halbherzig, die Richtigkeit der Fakten zu bestreiten, die von der Wehrmachtsuntersuchungsstelle zusamengetragen wurden. Es geht ihm nicht darum, die Verbrechen der Alliierten zu leugnen, sondern deren Erwähnung zu delegitimieren. „Kontextualisierung“ soll hier das Schlüsselwort sein, und da sei es eben nicht legitim gewesen, mit der – wohlgemerkt korrekten – Dokumentation der Abschlachtung gefangener deutscher Soldaten durch die Rote Armee den Eindruck zu erwecken, die Sowjets hätten etwa eine „Doktrin völkerrechtswidriger Kriegführung“ besessen.

Fünfundneunzig Prozent aller deutschen Gefangenen wurden bis Ende 1942 von den Sowjets ermordet oder kamen durch Vernachlässigung und Krankheit um. Das sind die neueren Zahlen des Militärgeschichtlichen Forschungsamts, die eine Bestätigung der Arbeit der Wehrmachtsuntersuchungsstelle darstellen und zusammen mit anderen Fakten den von Anfang an völkerrechtswidrigen Charakter der sowjetischen Kriegsführung beweisen. Das darf dennoch nicht erwähnenswert sein, weil solche Fakten laut Rass „Nähe“ zu deutscher Propaganda aufweisen können. In der Tat erschienen auch während des Krieges deutsche Veröffentlichungen unter dem Titel „bolschewistische Verbrechen“, die Material der Wehrmachtsuntersuchungsstelle verwendeten. Man kann dies als „Propaganda“ bezeichnen, denn die Wahrheit kann Propaganda sein.

Das Aufrechnen im Krieg objektiv nachzeichnen

Doch führt an der Wiederholung schmerzhafter Wahrheiten manchmal kein Weg vorbei, ganz besonders dann nicht, wenn unverdrossen zu politischen Zwecken aufgerechnet wird. Als die Wehrmachtsausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung in den neunziger Jahren die Muster stalinistischer Öffentlichkeitsarbeit fast ungefiltert wiederholten und im Begleitprogramm unter anderem sowjetische Propagandafilme aus der Kriegszeit zeigten, veröffentlichte der Historiker Franz W. Seidler im Rahmen der Debatte dieses Material der Wehrmachtsuntersuchungsstelle über sowjetische Verbrechen erneut.

Rass wirft ihm dies vor, dabei stellt genau dieses Material erst den richtigen Kontext her, in dem die Eskalation des Unternehmens Barbarossa gesehen werden muß. Ein wenig scheint der Zeit-Autor dies selbst zu ahnen, wenn er abschließend von der „Illusion der Einhegung der Gewalt im Krieg“ spricht. Vielleicht bleibt es wenigstens keine Illusion, daß die Zeitgeschichte das Aufrechnen im Krieg einmal objektiv nachzeichnet.

Foto: Deutsche Soldaten ziehen nach der Schlacht von Stalingrad in sowjetische Kriegsgefangenschaft: Nur 5 Prozent kehrten zurück

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