© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  01/10 01. Januar 2010

Kulturelle Umbrüche
Die Macht der Tendenzen
von Frank Lisson

Es gab Zeiten, da kämpften nicht nur Individuen, sondern ganze „Völker“ ums Überleben. Naturgemäß will sich aber nicht die Gattung oder der Verband erhalten, sondern der einzelne. Weitet sich der Erhaltungswille auf ein ganzes Volk aus (also auf lauter einzelne, die in keinem näheren Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen), kann das als „Kulturalisierung“, als sittliche oder ethische Veredelung gelten, da der bloß egoistische Überlebenswille auf eine soziale Gemeinschaft ausgeweitet wurde. Eine Eigenschaft übrigens, die unter allen Hominiden wahrscheinlich allein homo sapiens aufzubringen fähig war, was unter anderem seine soziale Überlegenheit etwa gegenüber homo neandertalensis gesichert haben dürfte.

Nun ist die Geschichte des Menschen dadurch gekennzeichnet, daß Völker und Kulturen beständig darüber miteinander im Streit liegen, wessen „Gott“ oder wessen politisches System das „bessere“ sei. Dieser Streit führte zu einer Art „geistiger Evolution“, da die Begegnungen mit dem „Anderen“ das Denken und Wollen der Menschen im Laufe der Jahrtausende nicht weniger geformt haben als die Umweltbedingungen seine Physis.

In Europa brachte jedes Zeitalter andere Rollenbilder hervor; einen Wechsel der Typen, die um Macht streiten. Der Typus, der jeweils dominiert, zwingt als Leittypus die Unentschlossenen, die Herdencharaktere zur Nachahmung. Zu allen Zeiten sind alle Typen in einem Volk, in einer Gesellschaft vorhanden: der Stolze, der Gemeine, der Abenteurer, der Feige, der maskuline, der feminine Typ. Die geschichtliche Situation, der „Reifegrad“ einer Gesellschaft sorgt dafür, welcher Typus wann die anderen verdrängt. Er prägt zugleich die jeweilige Tendenz, zeigt an, wo „vorne“ ist.

Nun war es seit jeher Merkmal der Konservativen, das Gewohnte gegen das Neue, Andere und Ungewohnte zu verteidigen. Konservative haben immer dann ihre Hochzeit, wenn das Gewohnte zwar durch eine neue Tendenz bedroht wird, aber noch stark genug ist, sich dieser Strömung gegenüber zu behaupten. Deshalb waren die Konservativen in Europa zwischen 1850 und 1900 am stärksten. Heute verteidigen sie vielfach jedoch Gewohnheiten, die einer Welt angehören, welche beinahe den Gegensatz zur bestehenden Realität bildet: Sie wollen etwas „retten“, das zu bewahren der großen geschichtlichen Tendenz zuwiderläuft. Dennoch scheinen sie heute „gefährlicher“ zu sein als Anarchisten im 19. Jahrhundert und werden oft entsprechend behandelt. Denn sie sind der Sand im Getriebe eines „Fortschritts“, der heimlich um sein Zerstörungswerk weiß, naturgemäß aber nicht zurückweichen darf.

Anders als Feministen, Schwarze oder Homosexuelle genießen Konservative keinen „Minderheitenschutz“. Ihrer „Emanzipation“ oder ihrem Kampf um Selbstbehauptung steht die künstlich erzeugte Aura des tendenziell „Rückständigen“, wenn nicht sogar „Bösen“ im Wege. Bekanntlich muß sich niemand vor der Allgemeinheit rechtfertigen, weil er für die taz oder die Jungle World schreibt. Dagegen gehört es zum vielleicht letzten großen Abenteuer in der Zivilgesellschaft, sich als „rechts“ zu bekennen – ein Abenteuer, das allerdings nur wenige eingehen wollen, weil dem Abenteurer die Anerkennung der Allgemeinheit versagt bleibt. Und das hängt eben besonders damit zusammen, daß der „Rechte“ einen Typus verkörpert, der im Selbstverständnis des aktuellen Menschen gar nicht mehr vorkommt. Er stellt etwas dar, das seine „Zeit“ gehabt hat, weil es, wie alles Menschliche, kein Ewiges ist.

Sowohl das Herden- als auch das Alphatier will „Avantgarde“ sein. Der Tendenz seiner Zeit zu folgen, heißt, biologische Vorteile zu erlangen. Um 1850 war, wer „vorne“ sein wollte, Nationalist – um 1950 Sozialist. Um 2050 wird er nur noch Pragmatiker sein.

Dagegen wäre der aktuelle, „linke“ oder „linksliberale“ Mensch im gesamten Abendland (und noch mehr im Altertum) ein Fremdling gewesen, weil sein Typus auf lauter andere gestoßen wäre, die sich gemäß ihrer Zeit entwickelt haben. Heute ist der „Rechte“ gleichsam aus der herrschenden Zeit „herausgefallen“. Doch weil er seinen Typus zuhauf in der Geschichte des Abendlandes vorfindet, fühlt er sich ermuntert, daran festzuhalten.

Die Aussicht auf eine „konservative Wende“ im Sinne nationalstaatlicher Ordnungen alten Stils wird aber weniger durch politische Entscheidungen beeinflußt als vielmehr durch den Verlauf kulturbiologischer Prozesse. Politik reagiert gemeinhin nur auf die großen geschichtlichen Tendenzen, die sich zumeist ganz unabhängig vom Wirken der Einzelstaaten ereignen. Geschichtliche Tendenzen entstehen beispielsweise durch das Aufkommen „neuer Ideen“ sowie durch das Verdorren alter, durch die Folgen technischer Innovationen oder demographischer Umbrüche, durch dynamische Wanderbewegungen infolge von Naturkatastrophen oder Klimaveränderungen.

Als um 1630 v. Chr. der Vulkan auf der Ägäis-Insel Thera, dem heutigen Santorin, ausbrach und gewaltige Seebeben und Ascheregen bewirkte, wurde die minoische Kultur derart geschwächt, daß sie sich nie mehr erholen sollte. Andere Mächte, etwa die Mykener, beherrschten daraufhin den Raum, bis 400 Jahre später auch sie vergingen und wieder neuen Kräften Platz machten, etwa den einwandernden Dorern, also Griechen. Der zweite gewaltige Einschnitt des Altertums, der diese Epoche gleichsam abschloß, die großen Völkerwanderungen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte, wurde durch die hohe Fruchtbarkeit germanischer und keltischer Stämme ausgelöst. Über tausend Jahre später, um 1800, erwachte eigenartig plötzlich die Idee des (republikanischen) Nationalstaates auf der Basis der Völker. Ganz Europa wurde von dieser Idee erfaßt, die nicht nur für eine territoriale, sondern auch für eine „geistige“ Neuordnung des Kontinents sorgte.

Denn es gibt einen Gattungstrieb nach Veränderung, der nicht in allen Menschen wirksam wird, aber in den entscheidenden. Daneben gibt es einen nach Erhaltung. Beide Triebe stehen miteinander im Kampf, nicht selten sogar zugleich in ein und demselben Menschen.

Heute haben wir es mit langfristigen Entwicklungen zu tun, die sich aus allen drei Quellen speisen: Klimaveränderung, demographischer Umbruch, Wandel der Wertvorstellungen. Und es gehört zu den menschlichen Wesenszügen, auf veränderte Situationen mit Anpassung zu reagieren. Sowohl das Herden- als auch das Alphatier will „Avantgarde“ sein. Der Tendenz seiner Zeit zu folgen heißt, biologische Vorteile zu erlangen. Um 1850 war, wer „vorne“ sein wollte, Nationalist. Um 1950 Sozialist. Um 2050 wird er nur noch Pragmatiker sein.

Die verwirklichte Bürgerfreiheit im ethnisch weitgehend homogenen Nationalstaat war nicht das „Natürliche“, sondern (für wenige Generationen) bloß das Gewohnte. Wer dagegen außerhalb dieser Gewohnheiten aufwächst, bemerkt ihr Fehlen kaum. Der Übergang in ein neues Zeitalter wird immer nur von denjenigen als „Katastrophe“ empfunden, die tief im alten verankert sind, weil es „ihre“ Welt war. Vergessen wir aber nie, daß auch die jetzt vergehende Welt einst eine andere verdrängt hat. Auch der Siegeszug des (bürgerlichen) Nationalstaates ließ Konservative zurück, die der „guten alten Zeit“ des Feudalismus nachtrauerten und dem damals Neuen äußert skeptisch gegenüberstanden. Kaiser Wilhelm I. war zum Beispiel so jemand.

Heute dürfen wir im Versuch zur Verwirklichung des bürgerlich-demokratischen Nationalstaates, wie ihn etwa die Ideen von 1848 vorsahen, den Gipfelpunkt abendländischer Kulturleistung sehen. Als hochmodernes, ideales Konstrukt war er jedoch ein zu empfindliches Kulturpflänzchen, das unter den Händen menschlicher Natur nur schwer reifen konnte. Folglich blieb der freiheitlich-bürgerliche Nationalstaat stets mehr Wunsch als Wirklichkeit. Sein Selbstzerstörungspotential aus Schwäche, das er schließlich entfaltete, ließ ihn zuletzt sogar als Idee sterben.

Zwar blüht dieses fragile Pflänzchen noch in den Herzen, den verwunschenen Gärten einiger Kulturmenschen, deren „Zeit“ aber eben nicht mehr die der herrschenden Tendenz ist. Es gibt kleine Widerstände, ein Knirschen im Getriebe ab und an, die Maschine indes läuft weiter. Sie spült das Neue, Ungewohnte in die Zeit, kippt es eimerweise täglich aus. So wird das Alte, Gewohnte langsam aus den Gehirnen gewaschen.

Das Zeitalter, das mit dem 21. Jahrhundert begonnen hat, wird die Welt und den Menschen mehr verändern als jedes Zeitalter zuvor. Wir spüren bereits überall die kommenden Erosionen, vermeiden aber gern den klaren, kalten Blick darauf, da uns das ungeheure Ausmaß dieser Veränderungen in Gänze auch noch nicht betreffen dürfte. Also versuchen wir, das „Gewohnte“ so lange wie möglich über die Zeit zu retten, da wir einen Großteil unserer Identität aus unseren Gewohnheiten beziehen.

Der von manchen Konservativen und auch einigen Libertären heraufbeschworene „Bürgerkrieg“ wird indes ausbleiben, weil es ihm an bürgerkriegstauglichen Parteien fehlt. Im Rücken der Eskalationspropheten wachsen nämlich Generationen heran, die den Mangel an kultureller Geborgenheit, ethnischer Homogenität und verbindlichen Werten gar nicht mehr als Verlust empfinden. Die heute Zwanzigjährigen sind durch eine ganz andere Erfahrungswelt geprägt als diejenigen, die ihre Sozialisation zwischen 1940 und 1990 erfuhren – und das weltweit.

Heute sitzen in den Großstädten der Welt ehrgeizige junge Menschen, die fast alle weltanschaulichen Eigenarten hinter sich gelassen haben. Sie alle verbindet ein veritables Ziel miteinander: Sie wollen nicht zu den Verlierern der neuen Weltordnung gehören.

Heute sitzen in Shanghai, Rio, Bombay, Detroit, Paris, St. Petersburg und Berlin ehrgeizige junge Menschen, die alle ein veritables Ziel miteinander verbindet: Sie wollen nicht zu den Verlierern der neuen Weltordnung gehören. Ihr Lehrer ist nicht die Tradition, sondern die Transparenz. Es sind die neuen Eliten, die in dreißig Jahren einen Weltfeudalismus stellen werden, der auf die derzeitigen Übergangspolitikergenerationen folgt. Ihre prägenden Erlebnisse waren nicht „Kalter Krieg“ oder politischer Provinzialismus, sondern die Abrufbarkeit der ganzen „Welt“ durch das Internet sowie die frühe Gewißheit, daß Leben Konsumieren heißt. Unterschätzen wir die Langzeitwirkungen solcher Erfahrungen nicht. Ein Putin oder Medwedjew, ein Hu Jintao, eine Merkel und ein Obama sind immer noch Kinder der Werteordnung des 20. Jahrhunderts. Charaktertypen wie Sarkozy oder Berlusconi geben bereits einen Vorgeschmack, wie der kommende Typus des Staatsmanagers und Politmoguls zu sein habe: eitel, gerissen, egozentrisch. Und auch: nihilistisch – mehr Machtclown und Zyniker als Staatsmann.

Die neuen Eliten werden fast alle weltanschaulichen Eigenarten hinter sich gelassen haben und die Selbsterzeugnisse einer mit technischem Wissen hochgerüsteten global community sein. Wie der europäische Adel des 15. bis 18. Jahrhunderts wird sich diese weltweit vernetzte Klasse nur insoweit um „nationale“ Angelegenheiten kümmern, wie dies erforderlich ist, um den eigenen Einfluß zu sichern. Man kommuniziert untereinander auf englisch, wie man im 18. Jahrhundert von Madrid bis Moskau Französisch sprach. Man studiert nicht Paläontologie, Kunstgeschichte oder Philosophie, sondern Wirtschaftsingenieurwissenschaften, Pharmazie oder Molekularbiologie. Man verfügt über ein Nutzwissen, das in der ganzen Welt gilt und überall anwendbar ist.

Solche Entwicklungen hat es im kleineren, sich nach und nach erweiternden Maßstab immer gegeben. Sie markieren gewissermaßen den Lauf der Welt und täuschen somit ein „Ziel“ an. Zugleich gehörte es stets zu den herausragenden Charaktereigenschaften selbständiger Menschen, sich dagegen zu empören.

Ausdruck solcher Empörung war etwa der unbeugsame Stolz eines Demosthenes, der im frühen vierten Jahrhundert v. Chr. die „griechische Freiheit“ der kommenden, makedonischen Epoche nicht opfern wollte. Oder der vieler Inka, die sich im 16. Jahrhundert dem anbrechenden spanischen Zeitalter so wenig beugten, wie ein Sitting Bull 300 Jahre später vor der US-amerikanischen Tendenz kapitulierte. Sie alle hielten trotzig an ihrer Sache fest, waren zutiefst konservativ, obwohl oder gerade weil sie wußten, daß ihre Sache sie nicht überdauern werde. Zwar würde es auch weiterhin noch Griechen, Inka und Sioux geben, aber der Geist, der von den durch die neue Tendenz Besiegten ausginge, wäre ein anderer, nicht mehr ihrer. Es ist die Natur des „Herren“, des „Lords“, des „inneren Adels“, die allerdings eine jahrhundertealte Kultur voraussetzt, um entstehen zu können. Wo ein solcher Hintergrund nicht mehr existiert, weil eine mächtige Tendenz den Menschen global erfaßt hat, wird bald vergessen sein, was bestimmte Charaktertypen einst in den Widerstand gegen das sie Überwältigende trieb.

 

Frank Lisson, Jahrgang 1970, studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie und arbeitet als freier Autor ( www.franklisson.de ). Zuletzt veröffentlichte er „Homo absolutus. Nach den Kulturen“ (Edition Antaios, Schnellroda 2008). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das neuzeitliche Heimwehgefühl (JF 35/09).

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