© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/10 08. Januar 2010

Mut zur Differenz
Auslese als Tabu: Das einstmals vorbildliche deutsche Bildungssystem leidet an einem Krebsschaden
Karlheinz Weissmann

Ein Tabu hat die soziale Funktion, einen bestimmten – zentralen – Sachverhalt vor den Augen der Vielen zu verbergen, indem man die Berührung oder Nennung des Tabuierten verbietet. Das zentrale Tabu der deutschen Bildungspolitik ist der Begriff „Auslese“. Er darf nicht benutzt werden – oder bloß im negativen Sinn, wenn er hinreichend stark mit Darwinismus oder der Rampe von Auschwitz zu assoziieren ist. Ansonsten gilt das für Tabus übliche Erwähnungsverbot.

Dieser Feststellung wird vielleicht der eine oder andere widersprechen und darauf verweisen, daß in den letzten Jahren von Bildungspolitikern über kaum etwas so intensiv gesprochen wurde wie über Rankings, Exzellenzinitiativen, Elitenaufbau. Und nichts davon ist ohne Auslese zu haben. Aber man lasse sich nicht täuschen: Hier wird jede Begabtenförderung mit dem Hinweis kompensiert, es gehe natürlich darum, „alle mitzunehmen“. Bestenlisten der Universitäten sind entweder undurchsichtig in bezug auf die Maßstäbe oder melden kaum etwas anderes als das, was man sowieso schon wußte, und die Elitenrekrutierung wird nur widerstrebend und da hingenommen, wo das aus wirtschaftlichen Gründen unvermeidlich und insofern „gesellschaftlich vermittelbar“ scheint.

Die Ursache dieser Misere ist so bekannt, daß ein Aufstöhnen zu vernehmen ist, sobald man sie nennt. Aber es bleibt dabei, daß die Denunziation des Leistungsprinzips durch die Linke und deren unheilige Allianz mit Bildungsbürokratie wie Konsumindustrie seit den sechziger Jahren eine Entwicklung vorbereitet und durchgesetzt hat, an deren Ende wir heute stehen.

Was da im Namen von „Demokratisierung“ und „Chancengleichheit“ und „Selbstentfaltung“ propagiert wurde, traf anfangs auf die Skepsis, wenn nicht den Widerstand der breiten Bevölkerung, die immer noch von der Erfahrung geprägt war, daß Leistung der gerechteste Maßstab für die soziale Stellung eines Menschen sei. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich in Deutschland jedenfalls die Vorstellung durchgesetzt, daß Anstrengungsbereitschaft und Tüchtigkeit zwar keine Garantie dafür sind, daß man es einmal besser hat als die Eltern, aber doch eine gewisse begründete Aussicht bieten. Der Aufstieg der Industrienation sowie der Wiederaufbau nach den zwei Weltkriegen 1918 und 1945 verdankten sich vor allem Leistungswillen und Leistungsfähigkeit der Deutschen und einem Bildungssystem, das darauf abgestimmt war, beides zu beanspruchen und zu belohnen, das heißt: Auslese zu treiben.

Man muß sich deshalb Schulen und Universitäten der Vergangenheit nicht als Idylle ausmalen. Selbstverständlich war die Besetzung von Lehrstühlen auch damals schon eine Frage von Politik und intrigantem Können, selbstverständlich gab es Zahllose, die nur ein „Brotstudium“ trieben, betrachtete das gehobene Bürgertum das Gymnasium als Gesamtschule seines Standes, schickte man Widerspenstige notfalls in die „Presse“, die Thomas Mann so anschaulich in den „Buddenbrooks“ geschildert hat, und biß diejenigen weg, die nicht „dazugehörten“, selbstverständlich gab es unnötige Härten und sinnlose Examen. Aber auf das Ganze hin war das Ergebnis imponierend. Die Qualität der deutschen Facharbeiterschaft, die durch die Volksschulen gegangen war, konnte – wie die der technischen Intelligenz, die Real-, Fach- und Fachoberschulen besuchte, oder die der hauchdünnen Schicht von humanistisch Gebildeten – jeden Vergleich zu ihren Gunsten bestehen. Bis in die Nachkriegszeit dürfte das deutsche Bildungssystem das beste der Welt gewesen sein.

Seine Zerstörung war nur deshalb möglich, weil man – in typisch deutscher Manier – irgendwann an die Überlegenheit des Fremden zu glauben begann, des amerikanischen campus und der englischen secondary schools etwa, und anfing, Schule wie Hochschule mit Forderungen zu überziehen, die sie nicht erfüllen konnten. Von der Idee, in den Bildungseinrichtungen den demokratischen (fallweise: sozialistischen) Zukunftsmenschen vorzubereiten, bis zu der, hier würde der drogenfreie, sexuell offene und kommunikative Typus geformt, für den es nicht auf Kenntnis und Verstehen, sondern auf „Kompetenzen“ ankommt, die er in der „Wissensgesellschaft“ souverän benutzt, um sich ganz nach Wunsch auf jedem beliebigen Gebiet firm zu machen, reicht eine ununterbrochene Folge von Mißbräuchen und Mißverständnissen. Eins verbindet sie alle: Es soll in Schule und Hochschule nicht um das gehen, worum es zwangsläufig gehen muß, also Lehren und Lernen, wobei der Lehrer lehrt und der Schüler lernt – der Lehrer, weil er das kann, und der Schüler, weil er das soll. Für das Können des Lehrers wie das Sollen des Schülers gibt es Maßstäbe; wer vor denen versagt, muß der Auslese anheimfallen.

Dieser Zusammenhang ist so simpel und so unbestreitbar, daß er in den Bildungsdebatten keinesfalls genannt werden darf. Denn jeder weiß oder kann wissen, daß der Krebsschaden unseres Schulsystems fehlende Auslese ist. Die Einführung schulartiger Konzepte in den Kindergärten geht nicht zusammen mit der Weigerung, die Kinder in der Grundschule zu benoten. Das Fehlen von Aufnahmeprüfungen an den weiterführenden Schulen und Hochschulen; die allgemeine Absenkung des Standards und die pädagogische Schaumschlägerei; die systematische Verschleierung von Analphabetismus niederer und höherer Art; der politische Druck, der in manchen Bundesländern schon ausgeübt wird, um den Durchschnitt bei Klassenarbeiten zu heben, aber jedenfalls um hohe Absolventenzahlen zu erzwingen oder die Leute mit unbrauchbaren, aber wohlklingenden Titeln in die Arbeitslosigkeit zu schicken – das alles hat nur einen Zweck: echte Auslese zu vermeiden. Eine mächtige Phalanx von Gesellschaftsingenieuren und Schlechtweggekommenen, Ungebildeten und Zynikern ist entschlossen, dieses Tabu aufrechtzuerhalten, selbst wenn das deutsche Bildungssystem daran zugrunde geht.

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