© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/10 08. Januar 2010

Kinder sind keine Fässer
Richtiges Personal und ein bißchen Corpsgeist: Die Internatsleiterin Annette von Rantzau schwört auf ihre Bildungsphilosophie der Heterogenität
Ellen Kositza

Die Pisa-Studie, eine verkürzte Gymnasialzeit, Einheitsschule versus Selektierung: Die schulpädagogischen Diskussionen der vergangenen Jahre hangelten sich vor allem um Strukturdebatten und Leistungsstandards. Wo sich das Messen, Standardisieren und Evaluieren derart in den Vordergrund der Schulwirklichkeit gedrängt hat, stoßen sich mittlerweile selbst leistungsorientierte Eltern an einer Institution, die sehr viel von Bildung spricht, aber zuvörderst auf unmittelbar verwertbares Paukwissen setzt.

Annette von Rantzau hat zum umfassenden Komplex der Bildungsmisere ein diskussionswürdiges Buch vorgelegt. Selbst Mutter von vier Söhnen und langjährige Gymnasiallehrerin, hat sie das einst bankrotte Internat Schloß Rohlstorf bei Bad Segeberg in Schleswig-Holstein neu aufgebaut und leitet es seit 2003. Die dort beherbergten Schüler rekrutieren sich aus allen Schichten (etliche werden vom Jugendamt überwiesen), ein hoher Prozentsatz hat einen „migrativen (!) Hintergrund“. Beschult werden die Heranwachsenden in Schulen der Umgebung, im Internat wird die übrige Zeit verbracht.

Das Buch gliedert sich in zwei Teile, die man grob mit „Theorie“ und „Praxis“ überschreiben könnte. Die Autorin setzt sich – mit wissenschaftlicher Sorgfalt und dennoch eingängig lesbar – mit den Gründen auseinander, die heute für die sogenannte Erziehungsmisere verantwortlich gemacht werden. Nein, weder der „Zerfall der Familien“ noch Einzelkindschicksale seien schuld an Schulproblemen, ebensowenig der erhöhte Fernsehkonsum, vorgeblich „aufmerksamkeitsgestörte“ Kinder, schon gar nicht die Tatsache, daß Mütter im Haus weniger präsent seien. Auch die Rede von einem „Werteverlust“ hinterfragt Frau von Rantzau, das „Lob der Disziplin“ (Bernhard Bueb) weist aus ihrer Sicht in die verkehrte Richtung. Nicht mal den Verweis auf die pädagogische Schwierigkeit, heute unterschiedlichsten Sozialisationsverhältnissen gerecht zu werden, läßt sie gelten.

Im Gegenteil – Heterogenität sei eine Chance. Klar, daß folgerichtig nicht Wilhelm von Humboldt, sondern Rousseau als Stichwortgeber dient. Dessen Credo, daß die Schule zum „Menschsein“ erziehen solle, wird von Karl-J.-Kluge, dem Kölner Lernforscher und Spiritus rector des Internats, modern anverwandelt zur „Erziehung zur Flexibilität.“ Eines der gefällig weichen Kluge-Zitat war titelgebend für das Buch. Kluge möchte „Konfliktlösungsfähigkeiten“ und „Beratungskompetenz“ der Schüler fördern und so weiter: Das klingt vielleicht hübsch, aber auch ideologisch verschwommen. Vieles andere ist zustimmungsfähiger, etwa der Bezug auf das Rabelais-Zitat, wonach Kinder keine Fässer seien, die gefüllt, sondern Flammen, die entfacht werden wollen. Oder die große Bedeutung, die in diesem Konzept dem räumlichen Gefüge zugemessen wird. In hellen Schloßsälen lernt sich fraglos besser als in einem Betonkasten unter Neonröhren. Fraglich nur, ob – für maximale Offenheit – gleich Wände herausgebrochen werden müssen, um den Klassenraum zum Flur hin zu öffnen. Nun, in der Praxis auf Schloß Rohlstorf ist dergleichen nicht nötig. Frau von Rantzau zitiert eine Studie, wonach die Qualität einer Schule mit ihrem pädagogischen Personal steht oder fällt.

Und hier, nicht in den schmückenden oder abschreckenden weltanschaulichen Grundlagen liegt auch die Stärke dieses Internats. Man liest von strikten Ritualen der Zimmerabnahme (Ordnung muß sein!), vom Freischwimm-Ritual, mit dem Neulinge „getauft“ werden (sie werden vom Steg in den 16 Grad kalten Wardersee geworfen), von Werdegängen verschiedener Schüler: wie sich die anfangs verwöhnte Zicke in die Gemeinschaft einpaßte, wie das schwierige „Jugendamtskind“ Lernerfolge und Anerkennung erfährt. Mit einer Werbeschrift hat dies alles wenig zu tun. Aus Annete von Rantzau spricht eine kluge Überzeugungstäterin.

Man könnte sagen: Hier heiligt der Erfolg die Theorie. Ein Schloß Rohlstorf in jedem Landkreis, und man würde sich glatt abfinden mit Rousseau.

Annette von Rantzau: Wir mögen dich so, wie du bist. Stärken stärken, Schwächen schwächen in der Gemeinschaft. Passagen Verlag, Wien 2009, broschiert, 228 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro

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