© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/10 15. Januar 2010

Beliebig und angepaßt
Von der Volkskirche zur Polit-Sekte: Der deutsche Protestantismus braucht eine neue Reformation
Michael Paulwitz

Schizophrenie ist noch eine wohlwollende Umschreibung für den gegenwärtigen Zustand der Evangelischen Kirche in Deutschland. Nach links, extremlinks und gegenüber den Verwirrungen und Modetorheiten des Zeitgeists ist der Markt der Möglichkeiten nahezu grenzenlos und die Toleranz unendlich. Gedanken, Menschen, Glaubensbrüder gar, die auch nur von ferne „rechts“ erscheinen, rücken vielen Kirchenfunktionäre dagegen gern mit inquisitorischem Eifer und sektiererischer Abgrenzungswut zu Leibe.

Im bereitwilligen Mitmischen beim „Kampf gegen Rechts“ wird die einseitige Politisierung kirchlicher Strukturen auf die Spitze getrieben. Seit’ an Seit’ mit linksextremistischen Organisationen und Agitatoren betätigen sich protestantische Pastoren als Einpeitscher von Bündnissen „gegen Rechts“, schmieden linke Kirchengruppen eine „Arbeitsgemeinschaft gegen Rechtsextremismus“ in Dresden, verharmlosen den zunehmenden linksextremen Terror, während sich die mecklenburgische Landeskirche einen einseitigen Radikalenerlaß verordnet und den Kandidaten für die Wahl der Kirchengemeinderäte einen Distanzierungs-Revers abverlangt. Die EKD selbst überlegt gar, mit welcher Handhabe sie nicht näher definierte „Rechtsextremisten“ ausschließen und vom Altar verstoßen könnte, als wäre sie eine Partei und nicht die Gemeinschaft der Gläubigen.

Würden Helmut Matthies, der wohl kaum zufällig ins Visier der jüngsten innerkirchlichen Säuberungskampagne geraten ist, und Jens Motsch­mann ihr schon vor mehr als drei Jahrzehnten veröffentlichtes „Rotbuch Kirche“ heute wieder auflegen, sie müßten etliche Kapitel neu hinzufügen. Kommunisten auf Kanzeln, eine steuerfinanzierte kirchliche Presse auf Linkskurs oder die Wandlung evangelischer zu marxistischen Studentengemeinden waren Symptome der Misere der Evangelischen Kirche in (West-) Deutschland in den ’68er und siebziger Jahren. Die Vorreiterrolle beim Import der Multikulturalismus-Ideologie, die verblendete Unterstützung mörderischer marxistischer „Befreiungsbewegungen“, das hartnäckige Wegschauen angesichts der Christenverfolgung im kommunistischen Ostblock und das friedensbewegte Anbändeln mit den dortigen Machthabern zerrütteten die EKD in den Achtzigern noch weiter.

Die Anfälligkeit des deutschen Protestantismus für heftige Flirts mit dem politisierten Zeitgeist hat historische und strukturelle Ursachen. Der evangelischen Kirche fehlt, im Unterschied etwa zur katholischen, das übernationale institutionelle Rückgrat. Ihre föderale, auf Wahlen gegründete landeskirchliche Struktur ermöglichte den Nationalsozialisten, sie in regimehörige und bekenntnistreue Flügel zu spalten. Der darob bis zur Obsession kultivierte Schuldkomplex ließ sie schließlich auch noch die Rückbindung an das Volk aufgeben. Seit den sechziger Jahren, konstatierte Jens Motschmann schon 1993, dominieren SPD-Anhänger praktisch alle Gremien der EKD. Bekenntnistreue und Evangelikale sind gegenüber den linksgewirkten Politisierern strukturell in der Minderheit.

Das ist fatal: Denn für eine christliche Kirche taugen weder feministische Pseudo-Theologie noch Dritte-Welt-Laden-Romantik und Migrantenverstehen, weder pazifistisches Emotionalisieren noch sozial- und wohlfahrtsstaatliche Allgemeinplätze zum Alleinstellungsmerkmal. In einem Land mit drei etablierten linken Parteien, einer durchweg sozialdemokratisierten politischen Klasse und einem unüberschaubaren Dickicht linker, linksliberaler und radikallinker Organisationen wird die evangelische Kirche in der Öffentlichkeit längst nur noch als eine von vielen solcher Gruppen wahrgenommen – und nicht unbedingt als die bedeutendste.

Die Abstimmung des von der geistigen Engführung vergraulten Kirchenvolks mit den Füßen wurde lange durch das komfortable Kirchensteuersystem und die Trägheit der vielen aufgefangen, die dem innerlichen Austritt den formellen zunächst nicht folgen ließen. Inzwischen ist sie zur unübersehbaren Massenflucht geworden. Um die leeren Kirchen sterben die Gemeinden in umgekippten Wohnbezirken, deren Bevölkerung durch amtskirchlich begrüßte Masseneinwanderung ausgewechselt wurde. Fusionierte Großgemeinden organisieren den gesellschaftlichen Notdienst für die vereinsamte Restbevölkerung aus Armen und Alten.

Die Amtsträger der EKD reagieren auf den dramatischen Verfall mit professioneller Gleichgültigkeit und routinierter Selbstabwicklung der ausgezehrten Strukturen. Je kleiner der Kreis der Kirchenglieder, desto größer das Gewicht der Ideologen in den Gremien, desto weniger Widerstand findet ihr Säuberungs- und Ausgrenzungswahn. Die einstige Volkskirche mutiert zur Kaderpartei, die atheistische und säkulare Ideologien umarmt und vor ihrer ureigenen Kernaufgabe, der geistigen und sittlichen Werteorientierung auf der Basis der christlichen Botschaft, kapituliert.

Zu Abtreibung und Familienzerstörung vermeidet die EKD klare Festlegungen. Über Schuld und Verstrickung der „Kirche im Sozialismus“ zu DDR-Zeiten liegt zwanzig Jahre nach dem Mauerfall noch immer eine sanfte Schweigedecke; um so lauter wird dafür in Mitteldeutschland in das dort besonders angesagte Anti-Rechts-Horn getutet. Zu den Christenverfolgungen in islamischen Ländern schweigt die evangelische Amtskirche verlegen wie weiland zu denen im Ostblock. Die islamistische Herausforderung durch die Landnahme in Europa wird ebenso beharrlich ignoriert oder beschönigt wie der linksextreme Terror. Andere Religionen werden unter Verwischung der Unterschiede synkretistisch umarmt, statt die eigene Offenbarung zu bekennen. Von Mission will man nichts hören; in den noch verbliebenen Gotteshäusern grassieren Infantilismus, oberflächliches Wellness-Christentum und rituelle Beliebigkeit. Fast ein halbes Jahrtausend nach Luther hat seine Kirche eine zweite Reformation selbst am bittersten nötig.

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