© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/10 15. Januar 2010

Moralisches Gewaber
Streit um Erika Steinbach: Ein Zivilisationsbruch sondergleichen
Thorsten Hinz

Am Streit um Erika Steinbach und das Zentrum gegen Vertreibungen läßt sich die Bedeutung des Wortes „Pressemeute“ ausgezeichnet studieren. Die Berichterstattung und Kommentierung der Medien sind gleichgerichtet wie die Bewegungen einer Hetz- und Jagdmeute. Ihr Instinkt richtet sich auf ein vereinzeltes Zielobjekt. Angestrebt wird dessen Erlegung und nicht etwa die Prüfung seiner Argumente. Nur die wenigsten Journalisten, die sich zu dem Thema berufen fühlen, sind ihm intellektuell gewachsen. Doch was tut’s? Die vermeintlich gute Gesinnung kompensiert die historische Unkenntnis, ohne daß es jemandem auffällt. Im Gegenteil: Den wenigen Journalisten, die sich jenseits der Meute bewegen – vorsichtig-betulich Thomas Schmid in der Welt, offensiv Berthold Kohler in der FAZ –, hallt in der elektronischen Kommentarfunktion in zwei von drei Fällen ein Echo ihrer konformistischen Kollegen entgegen.

Hier detailliert auf die Binnenlogik des deutschen Politikbetriebs, insbesondere der Parteipolitik einzugehen, lohnt nicht. Bundeskanzlerin Angela Merkel interessiert die Angelegenheit nicht, jedenfalls vermeidet sie es, die Autorität ihres Amtes in die Waagschale zu werfen. Die Annahme liegt nahe, daß Außenminister Guido Westerwelle – unwissentlich – an der langen Leine dieser ausgebufften Machtpolitikerin und -genießerin läuft.

Merkel geht es nur darum, sich weiterhin auf der Bühne der Europa- und der internationalen Politik zu sonnen und von US-Magazinen in albernen Umfragen zur „Weltstaatsfrau“ gekürt zu werden. Steinbachs Anliegen stört da nur. Wieder einmal symbolisiert die überzeugungsfreie Merkel die Fortschritte, die bei der politischen und geistigen Neutralisierung Deutschlands erreicht worden sind.

Die Argumente der Steinbach-Gegner lauten in etwa: Erstens, sie stehe der „Versöhnung“ mit den Nachbarn entgegen. Dagegen ist zu sagen: Ohne historische Wahrheit ist keine „Versöhnung“ zu haben. Der Begriff, so wie er heute benutzt wird, assoziiert ein religiöses und moralisches Gewaber, das sich als klebriger Film über Sachdiskussionen legt, ja sie gar verhindert. Sein inflationärer Gebrauch zeigt, daß man sich den historischen Tatsachen und Zusammenhängen nicht gewachsen fühlt.

Zweitens, so der Tenor, sei das alles schon lange her und erledigt, die Vertriebenen und ihre Nachkommen seien integriert, Steinbachs Forderungen lenkten von den vielen politische Problemen der Gegenwart ab. Dieselben Journalisten verfallen in Veitstänze, wenn diese Logik nur ansatzweise auf das deutsch-jüdische Verhältnis übertragen wird, und betonen bei jeder Gelegenheit, die deutsche Politik müsse sich quasi auf ewig von den „Lehren“ beziehungsweise von der „Verantwortung aus der deutschen Geschichte“ leiten lassen.

Natürlich geht es nicht um „die Geschichte“, sondern um ein bestimmtes Geschichtsbild, das offiziell sanktioniert ist und als dessen Propagandisten sie sich betätigen. So finden sie es weder kritikwürdig noch widersprüchlich, wenn den Nachgeborenen in Deutschland eine geschichtliche, Holocaust-zentrierte Erinnerung eingepflanzt wird, die mit ihrer originären Familiengeschichte in den allermeisten Fällen viel weniger zu tun hat als die Vertreibung.

Nicht Steinbach stellt die Politikfähigkeit Deutschlands in Frage – wie selbst viele Leserkommentare unterstellen –, sondern umgekehrt. Nur wer die Geschichte der Ostgebiete und der Vertreibung kennt, kann beispielsweise die Anmaßung der polnischen Regierung erfassen und überzeugend zurückweisen, für ihre – freiwillig zugewanderten! – Landsleute in Deutschland Minderheitenrechte einzufordern und eine Parallele zur autochthonen deutschen Restbevölkerung in Schlesien herzustellen. Politische Handlungsfähigkeit basiert eben auch auf einem ausgewogenen Geschichtsbild.

Die SPD-nahe Frankfurter Rundschau schreibt, Steinbach liefere „die wahrscheinlich letzten Nachhutgefechte um die Deutungshoheit über die deutsche Geschichte. Sie ist insofern die vielleicht letzte Politikerin der ‘Nachkriegszeit’. Die vielleicht letzte Vertriebenen-Funktionärin mit einigem politischem Gewicht, die für die Gleichsetzung ‘der Vertriebenen’ mit relativierenden, wenn nicht revisionistischen Geschichtsbildern steht.“

Es geht also um den endgültigen Umbau Deutschlands zur Bundesrepublik als einer Schuldgemeinschaft, die einer Verbrechensgeschichte entstammt. Die es als Merkmal eines tiefen historischen Bewußtseins empfindet, daß Enkelgenerationen beim Tarantino-Film „Inglourious Basterds“ vor Vergnügen jauchzen, wenn ihren Großvätern die Schädel zertrümmert werden; daß desorientierte Jugendliche am 13. Februar in Dresden skandieren, Bomber-Harris möge seine Werk noch einmal tun.

Die Wahrheit ist: Die Nachkriegsgeschichte soll nie zu Ende gehen, sondern in alle Vergangenheit und Zukunft ausgedehnt werden und schließlich die deutsche Nationalgeschichte ersetzen. Die frühere Geschichte und die Vorgängergeneration sollen unter moralischen Generalverdacht gestellt, die Verbindung zu ihnen gekappt werden. Die Medienmeute, die Erika Steinbach jagt, ist der Transmissionsriemen eines Zivilisationsbruchs.

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