© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/10 22. Januar 2010

Die zähe Guerilla in den Wäldern Litauens
Bis in die fünfziger Jahre führten die Sowjets einen bis heute wenig bekannten blutigen Partisanenkampf in den „befreiten“ Westgebieten
Christian Nekvedavicius

Unter den früheren Widerstandsgruppen des sowjetisch besetzten Osteuropas war zwar die ukrainische UPA der Zahl und Bewaffnung nach die stärkste, über die straffste Organisation jedoch verfügte die Vereinigte demokratische Widerstandsbewegung Litauens. Das ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit gewesen. Dem Außenstehenden erscheint eine Widerstandsbewegung stets als ein geschlossener, einheitlich gelenkter Organismus. In Wahrheit ist ein solcher Zustand unter den Bedingungen der Illegalität und der ständigen Verfolgung unendlich schwer zu erreichen. Die Litauer haben dieses Wunder nach dreijähriger Aufbauarbeit 1947 verwirklicht.

Die Leitung ihrer Widerstandsbewegung lag in den Händen des Obersten Komitees für die Befreiung Litauens, dessen auswärtige Delegation mit dem Sitz in den USA gleichzeitig die litauischen Emigranten vertrat. Innerhalb der Bewegung bildeten die „Freiheitskämpfer“ unter dem Oberkommando der bewaffneten Guerillastreitkräfte die aktive Truppe, deren Stärke, ursprünglich etwa 50.000 Kämpfer, noch Ende 1948 auf 20.000 Mann geschätzt wurde. Sie war in Bezirks- und Gruppenkommandos untergliedert und verfügte sogar über eigene Militär- und Standgerichtsbarkeit. Es war, als sei das vom eigenen Heereschef General Vincas Vitkauskas am 15. Juni 1940 an die Rote Armee verratene litauische Heer in den Wäldern wiedererstanden, in den traditionellen Uniformen, gut bewaffnet und diszipliniert.

Über 80.000 Gefallene bei den sowjetischen Truppen

Der nationalen Zusammensetzung nach stellten Deutsche nach den Litauern selbst das größte Kontingent, ihre Zahl wird auf bis zu 5.000 Mann geschätzt, darunter angeblich über 1.000 Offiziere, wie Ingo Petersen in seinem Werk „Die Waldwölfe. Unter baltischen Freiheitskämpfern 1947–50“ (Verlag K. W. Schütz, Preußisch Oldendorf 1973) anführt. Außerdem kämpften zahlreiche Groß- und Weißrussen in den Reihen der Truppe, während das Verhältnis zu den Polen der Armija Krajowa, die gezielt völkisch gesinnte Litauer ermordeten, entsprechend schlecht war.

In den ersten zwei Jahren nach der zweiten russischen Besetzung von Herbst 1944 entfalteten die litauischen Partisanen eine äußerst rege Tätigkeit. In dieser Periode der größeren Gefechte und bewaffneten Überfälle mit Einheiten bis zu Regimentsstärke unter Einsatz leichter Artillerie betrug die Zahl der gefallenen Sowjets nach deren eigenen Angaben 80.000, nach litauischen Schätzungen sogar bis zu 180.000 Mann. Nahezu die gesamte erste Garnitur der Besatzungstruppen wurde vernichtet. Als Folge davon bemächtigte sich der sowjetischen Funktionäre eine Angstpsychose, die zu massenhaften Versetzungen und Ablösungen führte.

Die Sowjets versuchten dieser Entwicklung zunächst im offenen Kampfe Herr zu werden und verstärkten ihre regulären Garnisonen durch bewegliche Abteilungen sogenannter Istrebiteli, Vernichtungskommandos aus NKWD-Truppen. Die Verluste der Litauer im Kampf mit diesen insgesamt 80.000 Mann starken Einheiten betrugen nach sowjetischen Angaben 12.000 Mann, während die Litauer 25.000 Gefallene zugeben. Trotz dieser enormen Verluste, und obwohl die Rote Armee vor umfangreichen Vernichtungen von Wäldern nicht zurückschreckte, gelang es ihr nicht, die Kampfkraft der litauischen Partisanen zu brechen.

Angesichts dieser Lage gingen die Sowjets ab 1947 zu wirksameren, indirekten Methoden über. Aus jener Zeit stammt der berühmte Befehl des Politbüros an den Obersten Chef der Sicherheitstruppen, General Wiktor Abakumow, für die Abteilung IX der Armee im Baltikum, in dem für den Fall der ernstlichen Gefährdung des Bestandes der Besatzungstruppen die regionale Deportation und notfalls Vernichtung der Zivilbevölkerung angeordnet wurde. Waren bis dahin individuelle Verhaftungen innerhalb bestimmter Personengruppen die Regel gewesen, so setzten nunmehr Massendeportationen ein, von denen in erster Linie die Schwerpunktgebiete des Widerstandes, vor allem die Räume von Wilna und Schaulen betroffen wurden.

Aus der Umgebung von Wilna wurden allein im Sommer 1948 etwa 70.000 Personen nach Innerrußland verbracht, und die Gesamtzahl der ausgesiedelten Litauer darf mit rund 500.000 Menschen oder etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung von 1945 angenommen werden. Gleichzeitig versuchten Gruppen russischer Kolonisten in den geräumten Gebieten Fuß zu fassen, ausgezeichnet bewaffnet und aggressiv vorgehend. Bis etwa 1952 gelang es dem bewaffneten Widerstand, sie jedenfalls aus den Dörfern und von den verlassenen Höfen wieder zu vertreiben. Erst in der Breschnjew-Zeit konnte eine nennenswerte Anzahl von Russen nach Litauen verbracht werden.

Diese rigorosen Eingriffe verfehlten ihre Wirkung nicht. Die Litauer waren gezwungen, seit 1949 sowohl die Zielrichtung ihres Kampfes als auch ihre Taktik zu ändern. War das vornehmste Ziel der Bewegung zunächst der aktive Kampf gegen die Besatzer gewesen, so trat an dessen Stelle nunmehr der Schutz des eigenen Volkes, seiner durch die sowjetischen Maßnahmen aufs äußerste gefährdeten Substanz. Es vollzog sich eine Umwandlung der Organisation aus einer Kampftruppe in ein Informationsnetz. Zwar waren die Tage der großen Gefechte nunmehr vergangen, dafür jedoch gelang der Widerstandsbewegung auf ihrem neuen Wege die Infiltration hoher und höchster sowjetischer Regierungs- und Militärorgane. Die Bewegung verfügte infolgedessen über vorzügliche Informationen, die sie in die Lage versetzte, gefährdete Personen rechtzeitig zu warnen und eine zersetzende Wirkung auszuüben, die letztlich zum – zuerst politischen – Ende der Sowjetbesatzung beigetragen hat.

Der bewaffnete Kampf seit etwa 1949 bis 1953 war dadurch gekennzeichnet, daß der Besatzer, dem ein schier unerschöpfliches Potential an Menschen, Material und Waffen zur Verfügung stand, immer wieder und noch mehr frische Truppen einsetzte, um die Verluste im Kampf gegen den Widerstand wettzumachen. Es war keine Seltenheit, daß dreißig Partisanen gegen 800 NKWD-Soldaten kämpften, wobei das Verlustverhältnis häufig eins-zu-fünfzehn bis eins-zu-dreißig betrug, wie im Buch des Exil-Litauers unter dem Pseudonym N. E. Suduvis „Allein, ganz allein. Widerstand am Baltischen Meer“ (New Rochelle, USA, 1964) geschildert wird.

Moskau griff auch noch zu einem anderen Mittel: Vernichtung der Wälder Litauens, in denen sich die Partisanenarmee verbarg. Wieder und wieder wurden riesige Waldgebiete durch Brandbombenteppiche eingeäschert. Um den im Jahre 1953 noch verbliebenen 2.000 litauischen Kämpfern ihre logistische Basis zu entziehen, wurden weitere 200.000 Bauern deportiert, zehn Divisionen der Roten Armee sicherten die Transporte in Viehwaggons gegen Versuche der Freiheitskämpfer ab, ihre Landsleute zu befreien. Zum Ende dieser Kampfperiode, etwa ab Herbst 1954, machten etwa 120.000 Mann von NKWD-Spezialtruppen mit Spürhunden auf die verbliebenen 700 bis 800 Partisanen regelrecht Jagd, zusätzlich wurden Sonderagenten in Partisanengruppen eingeschleust, die Schlupfwinkel verrieten, Betäubungsgas und Gift gegen die letzten Kämpfer einsetzten, die den Widerstand buchstäblich bis zum letzten Mann weiterführten.

Große Waldgebiete mit Brandbomben eingeäschert

Noch bis in die sechziger Jahre aber gingen die Kämpfe lokal weiter, meist nur unter Beteiligung kleiner Stoßtrupps, die gezielt losschlugen, Anschläge und Sabotageaktionen verübten und in der Dunkelheit verschwanden. Aus Rache machte das NKWD ganze Dörfer dem Erdboden gleich, Häuser mitsamt Frauen, Kindern und Alten wurden in Brand gesteckt. Oft setzte das NKWD Spezial­agenten ein, die, in litauische Uniformen gesteckt, unschuldige Menschen bestialisch niedermetzelten, damit die Schuld dem Widerstand in die Schuhe geschoben werden konnte.

Erst am 17. März 1965 wurde einer der letzten bewaffneten Widerstandskämpfer, Antanas Kraujelis, verraten und in seinem Erdbunker umstellt. In aussichtsloser Lage erschoß er sich, um einer Gefangennahme zu entgehen. Der Verantwortliche, KGB-Major Nachman Duschanski, entkam 1989 nach Israel und wurde in Abwesenheit verurteilt, jedoch bis zu seinem Tode nicht ausgeliefert. Am 6. Juli 1965 fiel mit der Waffe in der Hand Pranas Koncius, bis 1971 hielt sich als letzter Benediktas Mikulis bewaffnet in den Wäldern versteckt, 1980 wurde er zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Der damalige Volkskommissar für Justiz, Pranas Kuris, wurde übrigens 1994 von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zum litauischen Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewählt. Im Winter 1986 starb der allerletzte Freiheitskämpfer Litauens, Stasys Guiga, von einer Armee von Häschern nie entdeckt und unbesiegt, in einem geheimen Versteck an einer schweren Krankheit.

Fotos: Ordensverleihung der „Freiheitskämpfer“ in litauischen Wäldern 1948: Angstpsychose der Sowjets, Partisanenführer Aleksas Matelis, Antanas Starkus und Albinas Pajarskas 1949: Kampf gegen Massendeportationen von Litauern

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