© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/10 29. Januar 2010

Angst vor menschlichen Zeitbomben
Justiz: Der Fall eines aus der Haft entlassenen potentiell gefährlichen Sexualtäters hat die Diskussion um die Sicherungsverwahrung neu entfacht
Tobias Westphal

Die Sicherungsverwahrung (nicht Sicherheitsverwahrung, wie häufig zu lesen ist) ist wieder einmal in das Interesse der Öffentlichkeit gerückt. Das liegt nicht zuletzt an den  Einwohnern der Kreisstadt Heinsberg in Nordrhein-Westfalen, die Mahnwachen und Demonstrationen gegen einen dort lebenden, aus der Haft entlassenen Sexualstraftäter abhalten, nachdem Landrat Stephan Pusch (CDU) öffentlich vor dem Mann gewarnt und als Chef der Kreispolizeibehörde eine polizeiliche Überwachung rund um die Uhr angeordnet hatte.

Um sich eine Meinung bilden zu können, muß man den Fall von Anfang an beleuchten: Im April 1994 mißbrauchte der Täter zwei junge Anhalterinnen stundenlang in seinem VW-Bus, den er hierfür extra präpariert hatte. Der Mann bedrohte die vierzehn und fünfzehn Jahre alten Mädchen mit einer Pistole, versetzte sie in Todesangst, fesselte und knebelte sie und fügte ihnen bei den Vergewaltigungen schmerzhafte und entwürdigende Verletzungen zu.

Bei der Verurteilung des Täters wegen dieser Tat im Jahr 1995 zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren war die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß Paragraph 66 des Strafgesetzbuches (StGB) nicht möglich. Zum einen fehlte es an den formellen Voraussetzungen, zum anderen kam aber auch der Sachverständige und mit ihm die Strafkammer zu dem Ergebnis, daß ein Hang zu erheblichen Straftaten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden könnten, nicht vorliegt und der Täter somit für die Allgemeinheit nicht gefährlich ist.

Da bei der Verurteilung keine Sicherungsverwahrung angeordnet und auch keine Anordnung vorbehalten wurde, kam nur noch eine nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß Paragraph 66b StGB in Betracht. Für eine nachträgliche Sicherungsverwahrung ist es laut Bundesgerichtshof  (BGH) aber notwendig, daß vor Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe neue Erkenntnisse vorliegen, die für eine Gefährlichkeit des verurteilten Täters sprechen. Im vorliegenden Fall stellten die Richter der Strafkammer nun – wiederum aufgrund eines Gutachtens eines Sachverständigen – fest, daß vom Verurteilten doch weitere Sexualstraftaten zu erwarten seien und ein Hang zu erheblichen Straftaten bestehe.

Daß die Gefährlichkeit für die Allgemeinheit anders als im Urteil des ursprünglichen Verfahrens jetzt bejaht wird, genügt jedoch nicht für eine nachträgliche Sicherungsverwahrung, denn eine Neubewertung bekannter Umstände – hier des bereits damals bekannten Tat­hergangs und der Persönlichkeit des Täters – ist keine neue Tatsache. Die Revision der damit nicht einverstandenen Staatsanwaltschaft hat der BGH nun verworfen und stellte somit klar, daß die Entscheidung des Landgerichts München II korrekt war.

Es kann nicht überraschen, daß dieses Urteil für Nichtjuristen – allen voran für Eltern in der Nachbarschaft des Täters – völlig unverständlich ist. Immerhin wird nun die Gefährlichkeit attestiert, aber der Mann kommt trotzdem frei. Und die Bevölkerung fragt sich, wer die Schuld daran trägt, daß potentiell gefährliche Wiederholungstäter wieder auf freien Fuß gesetzt werden müssen.

Der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, äußerte sich daher enttäuscht über das Urteil: „Das Gericht ignoriert die Gefährlichkeit des Mannes, die nach wie vor von ihm ausgeht.“ Es sei „nicht nachvollziehbar, warum man eine ‘tickende Zeitbombe’ auf freien Fuß läßt.“ Eine „unerträgliche Zumutung“ nannte die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) die Gesetzeslage: „Es darf nicht sein, daß ein nachweislich gefährlicher Täter auf die Bevölkerung losgelassen wird.“

Daß Politiker nun empört sind, muß überraschen. Denn die Richter wenden nur die bestehenden Gesetze an. Die Gesetzeslücken sind schon länger bekannt, denn der oben beschriebene Fall ist mitnichten der erste dieser Art in Deutschland. Und den jetzt entrüsteten und betroffenen Politikern muß man entgegnen: Wenn die vom Gesetz geforderten Voraussetzungen für die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht gegeben sind, ist ein Täter, der seine Strafe verbüßt hat, freizulassen.

Die Entscheidung des Landgerichts München war rechtsfehlerfrei, und in einem Rechtsstaat mußte der heute 58 Jahre alte Sexualstraftäter in die Freiheit entlassen werden. Der Grünen-Rechtsexperte Jerzy Montag bewertet das BGH-Urteil positiv und betonte, daß durch die Entscheidung „der Ausnahmecharakter und die Grenzen der Sicherungsverwahrung erneut unterstrichen“ würden. „Ein Sonderstrafrecht darf es nicht geben, auch nicht für Sexualstraftäter.“ Dies erscheint vielen Menschen unerträglich, wenn Befürchtungen bestehen, daß ein solch schreckliches Gewaltverbrechen nochmals durch den Täter begangen werden könnte.

Der Druck auf die Politik wächst. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP wurde die Sicherungsverwahrung schon berücksichtigt. Man wolle „eine Harmonisierung der gesetzlichen Anordnungsvoraussetzungen der Sicherungsverwahrung im Strafgesetzbuch, die rechtsstaatlich und europarechtskonform ist“. Schutzlücken im geltenden Recht sollen geschlossen werden, und trotzdem soll „die Sicherungsverwahrung unter Berücksichtigung des notwendigen Schutzes der Bevölkerung ihren Ausnahmecharakter“ behalten und auf schwerste Fälle beschränkt bleiben.

Doch die Koalition muß noch an einer anderen Front kämpfen: Im Dezember hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kritisch zur Sicherungsverwahrung in Deutschland geäußert und diese als Strafe und nicht als Präventionsmaßnahme gewertet. Sollte das Urteil Bestand haben, wäre die nachträgliche Sicherungsverwahrung in Deutschland in Gefahr.

Foto: Mit Stacheldraht gesicherte Gefängnismauer: Besorgte Eltern

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