© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/10 29. Januar 2010

Ein Schauspieler des Deutschtums
Zur Neuausgabe von Thomas Manns politisch unkorrekten „Betrachtungen eines Unpolitischen“
Ilja Berger

Für die ältere Generation der Thomas-Mann-Verehrer waren seine im Herbst 1918 veröffentlichten „Betrachtungen eines Unpolitischen“ stets ein Ärgernis. Tochter Erika hätte den monströsen Essay am liebsten aus den 1960 erschienenen „Gesammelten Werken“ verbannt. Zuviel stand drin, was den 1955 verstorbenen, im Exil seit 1933 zum Patentdemokraten „gereiften“ Großschriftsteller postum in Mißkredit bringen konnte: zuviel „Reaktionäres“, „Antidemokratisches“, zuviel Apologie des „deutschen Wesens“, zuviel Abgrenzung gegen die in der Bonner Republik haussierenden „Werte des Westens“.

Germanisten und Literaturkritiker verhielten sich nach 1945 nicht anders als das Lesepublikum. Auch ihnen wäre lieber gewesen, der Nobelpreisträger hätte die politisch ganz und gar unkorrekte Bandwurmpolemik nie geschrieben, hätte nie diesen „Zeitdienst“ geleistet, sondern weiter auf dem „Zauberberg“ an seinem für die „Ewigkeit“ bestimmten Erzählkunstwerk gedrechselt. Allerdings fühlten sich die professionellen Deuteriche unter Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck. Und wie immer, wenn es neue Nonsens-Gipfel zu besteigen gilt, meldete Marcel Reich-Ranicki sich zeternd mit dem Vorschlag zu Worte, Thomas Mann politisch kurzerhand zu entmündigen. Politik habe ihn ja nie interessiert, stets sei es ihm allein darum gegangen, seine „geistige Welt“ gegenüber den Zumutungen der Wirklichkeit zu bewahren. Das lag auf der Linie Golo Manns, der Onkel Heinrich und seinen Vater als „unwissende Magier“ in politices abtat. Joachim Fest walzte dieses Bonmot zu einem Buch aus, der unvermeidliche Klaus Happrecht klatschte Beifall, und Hans Wysling, langjähriger Leiter des Züricher Thomas-Mann-Archivs, sekundierte mit dem Attest: „fundamentale Apolitie“. Warum sich dann also noch über die „Betrachtungen“ eines politisch Unzurechnungsfähigen aufregen?

Für den harten literarhistorischen Kern der TM-Forscher bot solche partielle Demontage ihres Idols indes keine akzeptable Alternative. Männer wie der Altmeister Hans Rudolf Vaget oder Dieter Borchmeyer, Helmut Koopmann und der Mainzer Germanist Hermann Kurzke, der 1972 bereits dem politischen Thomas Mann seine Dissertation widmete, verfolgen daher eine andere Strategie. Sie implementieren den „Betrachtungen“, in „strenger Zeitgemäßheit“, wie Mann formulieren würde, einen liberalen „Subtext“. Ein Konservativer sei Thomas Mann demnach auch während des Ersten Weltkrieges nie gewesen, schlimmstenfalls ein Nationalliberaler. Hier und da gebe es in den „Betrachtungen“ immerhin Antizipationen seines öffentlichen Bekenntnisses zur Weimarer Republik  im Herbst 1922, mitunter gar die Nähe zur SPD,  wie Jens Nordalm triumphierend feststellte (Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 2006).

Die Verwandtschaft mit Max Webers Kritik am spätwilhelminischen Herrschaftssystem wurde plötzlich entdeckt. Wer lange genug suchte wie Borchmeyer, fand zudem erstaunliche Parallelen zu Edmund Burkes eher alt-liberalen als konservativen Entwürfen zur Ordnung des Gemeinwesens. Und war Thomas Mann als Lübecker Patriziersohn nicht geradezu der „geborene“ Liberale?

Hermann Kurzke, der jetzt die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ im Rahmen der „Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe“ der Werke des „Zauberers“ neu herausgegeben hat, muß diese jüngere Neubewertung des politischen Thomas Mann wie eine Offenbarung gelesen haben. Denn nie konnte er verbergen, wie er unter Armin Mohlers Klassifizierung litt, sein Hausgott gehöre als „kategoriensprengender Autor“ fraglos in den „Mittelpunkt der Konservativen Revolution“. Entsprechend prominent neben Carl Schmitt und Ernst Jünger, Oswald Spengler und Ernst Niekisch prangt der junge, elegisch blickende „Tommy“ auf dem Titelbild von Mohlers KR-Handbuch. Noch im Jubiläumsjahr 2005 glaubte Kurzke solcher Kanonisierung seinen Tribut zollen zu müssen, indem er Thomas Mann als „konservativen Humanisten“ pries.

Im ausufernden Essay, den er nun seinem Kommentarband voranstellt, ist davon nicht mehr die Rede. Aus den Klauen Mohlers befreit, steht Mann nun dort, wohin Kurzke & Co. ihn sich schon immer gewünscht haben: unter den „Liberalen“. Sein umfassendster theoretischer Text, die „Betrachtungen“, dürfe nun bedenkenfrei in den „liberalen Diskurs“ eingespeist werden. Das klinge wenig überzeugend, wie Volker Weidenmann einwendet, der sich von Kurzke zu einer „verharmlosenden Zwangslektüre“ verdonnert sieht (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15. November 2009), während Tilmann Krause noch das „Knirschen“ zu hören meint, das solche Vereinnahmung fürs liberale Lager hinterlasse, aber sich – offenbar kein Kenner des Antiquariatsmarktes, der die Ausgaben der „Betrachtungen“ im Dutzend billiger offeriert – ansonsten kindlich freut, daß „ein Meilenstein der deutschen Literatur wieder da“ sei (Literarische Welt vom 24. Dezember 2009).

Kurzkes „knirschende“ Interpretation, die sich auf die schillernde Widersprüchlichkeit des Textes stützt, dazu aus einer umständlichen und tatsächlich „wenig überzeugenden“ Unterscheidung zwischen „Sein“ und „Meinen“ des „Rollenspiele“ inszenierenden „Schauspielers des Deutschtums“ Honig saugen will, gerät am Ende unversehens in die Nachbarschaft zu Christoph Steding, dem nationalsozialistischen Geschichtsdenker, der 1938 mit dem Röntgenblick des ideologischen Gegners auch schon –  „raffiniert“ argumentierend, wie Kurzke greint – erkannt habe, daß die „Meinungen“ des „Unpolitischen“ zwar „national und konservativ“ klängen, sein Buch aber trotzdem so „internationalistisch und zivilisationsliterarisch“ sei, daß „nationalistische, konservative noch gar rechtsradikale Politik“ sich auf die „Betrachtungen“ nicht berufen könne.

Um ein derartig peinliches Eingeständnis zu vermeiden, mit der eigenen Deutungskunst nach zwei Generationen wieder nur auf der Höhe Christoph Stedings angelangt zu sein, hätte Kurzke etwas politische Ideengeschichte treiben müssen. Dann wäre ihm, wie Mathematiker sagen, auch ein wirklich eleganter Beweis dafür gelungen, daß der Verfasser der „Betrachtungen“ primär ein Liberaler war. Der Beweis ist indes schon geführt worden: mit der bei Kurzkes Augsburger Kollegen Koop­mann entstandenen Dissertation von Berndt Herrmann („Der heitere Verräter“, 2005).

Herrmann folgt Hermann Lübbes Analyse der „Ideen von 1914“. Wer unter den deutschen Intellektuellen dazu sein Scherflein beigetragen habe, suchte sein Heil genau wie die Advokaten der westlichen, unifizierenden „Civilisation“ in der Abwendung von der Grunderfahrung der Moderne, in der Aufhebung von Pluralität in Totalität: etwa in der „vollkommenen Gemeinschaft“, die auf die totalitäre „Volksgemeinschaft“ genauso vorausweise wie auf die „totalitäre Demokratie“ (Jakob L. Talmon). In solchen Visionen werde also auf die „Entzauberung der Welt“ mit Anstrengungen zu ihrer „Wiederverzauberung“ geantwortet. Bei Thomas Mann, so Hermann, finde sich davon aber keine Spur. Diese Sehnsüchte nach Wiederverzauberung befeuerten die „gegenmodernen Reaktionen“ oder „antimodernen Regressionen“ der KR, von denen ihn ein unüberwindbarer Graben trenne, genauso wie von linken Utopien und Heilserwartungen à la Ernst Bloch. Es ist der antitotalitäre Affekt Thomas Manns, der Mohlers Etikettierung ad absurdum führt.

Mit diesem Persilschein versehen, ist dem „Schöngeist mit der leidenschaftlichen Affinität zum jeweils Gegebenen“ (Kurt Hiller) mitsamt seiner „Betrachtungen“ ein Ehrenplatz in der politischen Hausapotheke von „westlich geprägten“ Konservativen wie Tilmann Krause reserviert, als Repräsentant eines ironisch gebrochenen, „freien, geistigen Konservatismus“, den man freilich irgendwie mit einer Sinnstiftung für Warmduscher und Schnullerbacken assoziiert.

Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. Herausgegeben und kommentiert von Hermann Kurzke, zwei Bände. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2009, 1.420 Seiten, 80 Euro

Fotos: Thomas Mann mit Familie 1931 in Nidden auf der Kurischen Nehrung: Ein Konservativer sei Thomas Mann auch während des Ersten Weltkrieges nie gewesen, schlimmstenfalls ein Nationalliberaler, Titel der fünften Auflage von 1999: „Tommy“ rechts oben

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